Leben und Tod

Lebensdauer – Todeszeitpunkt

Ärzte und Ärztinnen kennen die Frage:  Wie lange habe ich noch? Oft wird die Frage nach Lebensdauer und Todeszeitpunkt sofort bei der Diagnose ‘Krebs’ gestellt, fast immer am Ende eines langen Leidens – Prozesses, wo es  darum  geht, welcher Behandlungsweg weiter eingeschlagen werden soll.

Lebensdauer – Todeszeitpunkt: sinnvolle Frage oder Neugierde?

Man kann die Frage aber auch ‘nur so’ stellen – das Internet macht es möglich. Tatsächlich kann, wer möchte, die verschiedensten sites finden; zum Teil sind diese bewusst als eine von mehr oder weniger spielerischen Grusel-Möglichkeiten angelegt, teilweise führen sie aber zu Sichtbarmachung der allgemeinen Lebenserwartung. Das kann sehr sinnvoll sein: hier wird zum Beispiel im Endeffekt aufgezeigt, wie sehr die allgemeine Lebenserwartung für Einzelne beinflussbar ist. So könnte eine solche site beispielsweise dazu führen, dass Menschen sehen, wieviel Lebensjahre sie gewinnen könnten, wenn sie lang Gewusstes in die Tat umsetzen würden: sich gesünder ernähren, nicht mehr rauchen, Alkoholkonsum einschränken, mehr Bewegung in ihren Alltag einbauen und soziale Beziehungen stärken.

Allgemeine Lebenserwartung und persönliche Lebensdauer

Es geht dabei aber immer um die allgemeine  Lebenserwartung. Die Antwort ist eine statistische und kann für eine Einzelperson nur aussagen: so wie du jetzt bist, und wenn alles so bleibt, wirst du in dieser Gesellschaft und in diesem Land etwa – sagen wir – bis zum 92. Lebensjahr leben. Diese Antworten der Statistiken können nicht den Einzelnen erfassen, nicht wissen und einrechnen, ob du mit nur 56 im nächsten Jahr einen tödlichen Unfall erleidest oder einen Herzinfarkt, oder ob du nach mehrfachen Infektionen vielleicht niereninsuffizient wirst und eine Dialyse benötigst oder auf eine Transplantation wartest uvm.

Ganz anders ist das bei den Fragen, die in der Medizin an Ärzt:innen gerichtet werden oder die Ärzt:innen und Pfleger:innen an die Medizin als Wissenschaft richten. Hier wird unter Vorlage aller bekannten medizinischen Daten gefragt, wie sich die ganz persönliche Lebenserwartung darstellt; die Frage also ist, wie lange der Mensch X mit den Untersuchungsdaten Y  noch leben wird. Kann man diese Frage heute beantworten? Um es gleich zu sagen: nein, wenn es um einen genauen Todeszeitpunkt geht. Allerdings werden die Annäherungswerte immer besser. Das bringt Chancen und Probleme mit sich.

In die Zukunft schauen: was können wir schon?

Die Frage ist so alt wie die Menschheit: Seit der Antike kennen wir die Orakel, Wahrsager hatten Zulauf bei Jahrmärkten, Tarotkarten sind weiterhin beliebt. In allen Fällen geht es um reine Auslegung. Heute gibt es zur Bestimmung von Lebensdauer – Todeszeitpunkt  Algorithmen, die für bestimmte Gruppen eine Art Standortbestimmung vornehmen können. Dazu gehört beispielsweise das für gebrechliche alte Menschen in häuslicher Pflege von Wissenschaftlern der Universität Ottawa konzipierte Projekt Respect. 

Dieses in Kanada entwickelte tool basiert auf mehreren Fragen und gibt am Ende eine Einschätzung, mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Monaten bis fünf Jahren der Tod eintritt. Solche Voraussagemodelle sind schon spezifischer, aber weit entfernt von einer genauen Voraussage. Perfektionierter wirken da die in Laboruntersuchungen feststellbaren  Biomarker.

14 solche Biomarker können die Wahrscheinlichkeit berechnen, innerhalb der nächsten 5-10 Jahre zu sterben. Über längere Zeiträume gibt es bisher kaum Möglichkeiten, besonders bei älteren Menschen. Aber über eine Kombination dieser Biomarker mit anderen Untersuchungsbefunden ist eine immer genauere Einschränkung zu erwarten.

Todeszeitpunkt – sollten wir nähere Bestimmung  anstreben?

Einiges spricht dafür:

  • Jede frühzeitige Erkenntnis über die individuelle Lebenserwartung erleichtert auch noch mögliche präventive Maßnahmen, dazu eine sinnvolle Therapieplanung.
  • Möglichst genaue Kenntnisse über das Sterberisiko können Ärzt:innen bei der Einschätzung auch des Risikos einer Operation helfen. Ist der/die zu Operierende zu gebrechlich für den Eingriff? Welches Positive ist für die Patient:innen im Ganzen von dem Eingriff zu erwarten?
  • Auf der Grundlage solcher Kenntnisse könnte leichter bei unheilbar Kranken über die am besten einzuschlagende Behandlung entschieden werden. Patient:innen könnten klarer entscheiden, ob sie beispielsweise lieber das Krankenhaus verlassen und zu Hause durch einen ambulanten Palliativdienst betreut werden wollen.

Und Vieles dagegen:

  • Eine solche statistische Risikoeinschätzung könnte einen zu hohen Stellenwert in der individuellen Medizin bekommen und es würden sich unzählige neue Fragen ergeben: dürften Krankenkassen fordern, dass Algorithmen über Operationen entscheiden, die für Patient:innen noch finanziert werden würden? Dürfte eine KI die Patient:innen in Gruppen einteilen, welche generell noch Leistungen (zum Beispiel Medikamente, Dialyse) erhalten und welche nicht? Wäre eine solche Einteilung nach individuellen Untersuchungsbefunden gerechter als eine Einteilung nach Alter, die ja von Gesundheitsökonomen als objektives und gerechtes Kriterium bezeichnet und in verschiedenen Ländern schon angewendet wird?
  • Wie weit könnten Ärzt:innen damit unter Druck gesetzt werden?  Würde von ihnen verlangt werden, dass sie im Gespräch zur gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patient:innen nur noch solche Therapien vorstellen, die aufgrund der Einteilung des Algorithmus ‘lohnend’ sind?
  • Ergebnisse von Vorhersagen können Patient:innen stark beinflussen. Das größte Problem ist die ‘selbsterfüllende Prophezeiung’. “Alles lohnt sich bei mir ja sowieso nicht” kann zu Depression und Selbstaufgabe führen, was für jeden Heilungsprozess sicher nicht förderlich ist.  An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass Patient:innen einerseits alles gemeinsam mit Ärzt:innen entscheiden sollen, aber andererseits ein ‘Recht auf Nichtwisssen’ haben. Wie und wodurch müssten alle Patient:innen  den Wunsch nach Nichtwissen festlegen und zur Kenntnis Aller bringen?

Lebensdauer – Todeszeitpunkt kennen: wollen wir das überhaupt?

In dieser Frage stecken zwei verschiedene Gedanken. Was wollen wir als Gesellschaft?  Und: Was will ich für mich? Die erste Frage verlangt eine breitere gesellschaftliche Diskussion als bisher geführt und zwar bald; denn natürlich hängt diese Frage auch zusammen mit  unserer demografischen Entwicklung, mit drohenden immer größeren Problemen bei der Finanzierung im Gesundheitswesen,  Standortbestimmungen der Krankenkassen, Leistungsmöglichkeiten der Krankenhäuser. Steigt der Kostendruck immer weiter, wäre gar die  Konsequenz möglich, dass solche immer besser werdenden Tests zur Bestimmung der Lebenserwartung zu einer Pflicht werden könnten? Der Deutsche Ethikrat hat schon 2017 in seiner Stellungnahme zu Big Data in der Gesundheit zumindest klargestellt, dass der Gebrauch von derartigen in der Zukunft möglichen Risikoprofilen für den Gebrauch der Gesetzlichen Krankenkassen verboten werden sollte, schon allein deshalb, weil ein solcher Gebrauch das Solidaritätsprinzip aushebeln würde.

Mit der zweiten Frage: “Was will ich für mich” sollte sich allerdings Jeder bewusst auseinandersetzen. Auch wenn es offensichtlich einzelne Menschen gibt, die ein ewiges Weiterleben für erstrebenswert halten, (Stichwort beispielsweise Kryokonservierung) trifft das wohl für die Mehrheit nicht zu. Ob notgedrungen oder aus fundierten Überzeugungen bejahen Menschen die Tatsache, dass wir sterben und dass neue Generationen nach uns leben werden. Nachdenken müssen wir viel intensiver über die Frage, was jeder Einzelne für sich für Lebensqualität hält; darüber, was für mich selbst ‘sinnvoll’ erscheint, dass ich vielleicht weniger Angst vor dem Tod habe als vor einem für mich persönlich nicht mehr sinnvollen Leben und vor allem vor einem Leben in Schmerzen und Not. In diesem Zusammenhang müssen wir, jeder Einzelne, tatsächlich auch mehr über ‘sinnvolle Medizin‘ nachdenken und darüber, dass es ‘vergebliche Medizin’ nicht gibt. Darüber hinaus darüber, ob  wir über alles, was man untersuchen kann, inklusive Voraussagen, informiert werden wollen oder nicht, und wir müssen solche Entscheidungen dann auch kommunizieren. Sprechen mit Menschen unseres Vertrauens, schriftlich aufnehmen in unsere Vorsorgevollmacht.

 

Dank für Bild an Lucas Pezeta auf Pexels

 

Literaturtipps

Thomas Ramge: Wollt Ihr ewig leben?

Thomas Ramge: Augmented Intelligence. Wie wir mit Daten und KI besser entscheiden

Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft

 

Futility – vergebliche Medizin?

“Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden; was dieser heute baut, reißt jener morgen ein…” schreibt im 17. Jahrhundert der Barockdichter Andreas Gryphius, und das liest sich genauso wie die Texte des Propheten Salomo aus dem Alten Testament über die VANITAS, die Vergeblichkeit: “Alles ist Eitelkeit”. Bei Salomo und im Barock ging es um die Vergänglichkeit des Irdischen und den Glauben, dass sowieso das Glück des Menschen erst im Jenseits zu finden sei. Im Barock erlebten die Menschen die Pestepidemie und den dreißigjährigen Krieg, im 20.Jahrhundert tobte der erste Weltkrieg und Paul Cezanne malte wieder das Vanitas – Motiv in seinem Stilleben mit Totenschädeln. Heute sagt man nicht mehr “Eitelkeit” in dieser Bedeutung, und auch ‘Vergeblichkeit’ wird im Deutschen selten benutzt. Man spricht eher von erfolglos, sinnlos, nicht lohnend, “ohne Sinn und Zweck”. In der Medizin hat sich zudem ‘frustran’ und ‘futile’ etabliert. Gibt es  futility – vergebliche Medizin?

Futility – vergebliche Medizin?

Dabei ist die Bedeutung von ‘frustran’ noch ziemlich klar und einfach. Ein  Wiederbelebungsversuch war dann frustran, wenn er nicht zum Erfolg führte. Es kann viele frustrane Versuche einer künstlichen Befruchtung geben, die zu immer mehr Wiederholungen führen. Hier sieht man schon, dass es einen großen Spielraum des Ermessens gibt. Will  sich ein Paar bei einer unter zehn Prozent liegenden Erfolgsaussicht einem so zermürbenden Prozess weiter aussetzen? Kann das trotzdem ‘sinvoll’ sein, also eben nicht ‘vergeblich’ in der Bedeutung von ‘sinnlos’?

Aber sonst? Kann ärztliche Bemühung um das Leben von Patient:innen überhaupt so verstanden werden? Ohne Sinn und Zweck sein, verlorene Liebesmüh? Der Begriff  ‘futile’ umfasst all dieses. “Die Natur macht nichts vergeblich” steht bei Aristoteles; aber ist das die ‘Natur’, die mit allen technischen Mitteln auf einer Intensivstation Lebensverlängerung anstrebt? Mit der langsam zuehmenden Erkenntnis, dass diese Lebensverlängerung auch  nur Leidensverlängerung bedeuten kann, begannen die Fragen bereits vor Jahrzehnten; 2021 rief dann die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften  SAMW zu einer breiten Diskussion über dieses Themas auf. Gleichzeitig erschien ein Positionspapier in Deutschland, welches die Frage der “Überversorgung” in der Intensivmedizin thematisiert: wie sei diese zu erkennen, zu benennen, zu vermeiden?

Übertherapie und Überversorgung

Unter Übertherapie werden medizinische Behandlungen verstanden, die für eine Heilung  keinen Zusatznutzen erbringen, aber auch nicht für die Linderung von Symptomen. Diese also unnötigen Maßnahmen sind dazu nicht risikofrei,  bedeuten daher nicht nur unnötige Kosten, sondern auch Schädigungen bis hin zu Todesfällen.

„Überversorgung“ dagegen ist der weitere Begriff aus der Gesundheitswissenschaft, dieser beinhaltet keine möglicherweise schädigenden, sondern unnötige und unwirtschaftliche Behandlungen. Dabei können viele andere Faktoren Einfluss haben:  gesellschaftliche Wertvorstellungen, Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen, medizintechnische Entwicklungen, rechtliche Regelungen, kommerzielle Interessen sowie die individuelle Arzt – Patienten-Beziehung; dazu kommen  die  oft  ganz falschen Vorstellungen und Erwartungen von Patient:innen und Angehörigen sowie Bevollmächtigten in Bezug auf die Intensivmedizin.

“Alles tun”?

Offensichtlich ist “alles tun” nicht unbedingt gleichzusetzen mit guter Gesundheitsverorgung. Natürlich soll man “alles” für mich oder meine Angehörigen tun! Angesichts aber der immer weiter wachsenden technischen Möglichkeiten einer “Lebensverlängerung”, die etwas verlängert, was für mich vielleicht nicht mehr “Leben” bedeutet, ohne Aussicht auf eine Besserung des Zustandes oder sogar Heilung, geht es doch eher darum, individuell eine Behandlung festzulegen, die meinem Willen  bestmöglich entspricht. Das ist am einfachsten, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, die klar und eindeutig formuliert ist und auf die Situation zutrifft. Oft ist am Anfang bei einer Krankenhauseinweisung ja noch gar nicht klar, wie der Verlauf der Krankheit sein wird, und genau darum wird natürlich zunächst “alles” getan. Aber es kann der Punkt kommen, wo das medizinische Team absieht, dass “Futility” eingetreten ist. Dann muss entschieden werden, ab wann auf den Einsatz medizinischer Maßnahmen verzichtet werden sollte. Das nennt man ‘Änderung des Therapieziels’.

Gemeinsame Entscheidung

Eine Verpflichtung zur Behandlung besteht nur in Notfallsituationen. In jedem anderen Fall muss das medizinische Team zu Vorschlägen über medizinisch indizierte Maßnahmen kommen, über die dann mit den Patient:innen gemeinsam entschieden wird.  Dennoch wird dieser gemeinsame Entscheidungsprozess oft von Seiten der Ärzt:innen immer weiter verschoben. Dafür gibt es viele Gründe: Das Medizinstudium bildet zum “Retten” aus, die Grenzen der Medizin werden weniger aufgezeigt als ihre immer weiter steigenden Möglichkeiten. –  Nicht-Handeln wird als Versagen empfunden, als Verlieren in einem Kampf,  – ‘Weitermachen’ ist einfacher als die bewusste Konfrontation mit den Erwartungshaltungen und dem Druck von Patient:innen und Angehörigen. – Nicht zuletzt muss ein systemischer Druck erwähnt werden, ökonomische Gesichtspunkte in einem Krankenhaus, welches eine bestimmte Zahl von diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen erreichen will.

Was sagt das Recht?

Bei immer weiter zunehmenden rechtlichen Regulierungen, die viele Grauzonen übrig lassen, fühlen sich Ärzt:innen zudem häufig in der Defensive und fürchten Klagen und rechtliche Folgen. Dabei ist heute ganz klar: wenn sich Ärzt:innen und Patient:innen oder deren Vertreter:innen über eine diagnostische oder therapeutische Maßnahme einig sind, dann bestehen aus rechtlicher Sicht keine Probleme!

Futility in der Medizin

Die große Frage ist also: wann besteht futility? Nachdem trotz jahrzehntelanger Diskussion schon seit den 70er Jahren der Begriff weiterhin nicht ganz klar war, hat  2022 die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer eine hilfreiche Positionierung veröffentlicht, in der zwei Stufen von futility unterschieden werden: bei der einen kann die medizinische Maßnahme mit hundert Prozent Sicherheit nicht zum Erfolg führen. Es ist für jeden einsichtig, dass eine so sinnlose Maßnahme überhaupt nicht angeboten werden darf. Solche Situationen sind aber sehr selten. Die häufigen Probleme liegen in der zweiten Gruppe: es gibt viele medizinische Maßnahmen, die nach heutigem Wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Therapieerfolg führen. Es wird klar, dass hier eine Abwägung von Nutzen und Schaden individuell für alle Patient:innen stattfinden muss und dass es daher keine allgemein gültigen Regeln geben kann.

Wohl oder Wille?

Die Abwägung muss sich auf das individuelle Patientenwohl beziehen, und dieses “Wohl” definieren heute nach dem Gesetz nicht die Ärzt:innen, sondern nur die Patient:innen selbst. Der Patientenwille ist also das oberste Kriterium; es ist einfach zu hoffen, dass alle Menschen diesen Willen für sich selbst bestimmen und schriftlich niederlegen, diesen vor allem aber mit Vertrauenspersonen besprechen, für die sie dann frühzeitig eine Vorsorgevollmacht erstellen.

Medizinische und ärztliche Indikation

Wenn eine Maßnahme im Hinblick auf ein Weiterleben mit einer für die Patient:innen akzeptablen Lebensqualität ‘futile’, also aussichtslos ist, somit das medizinische Therapieziel geändert werden soll, heißt das aber nicht, dass ‘aufgehört, nichts mehr getan’ wird. Es heißt, dass von diesem Punkt an die Palliativmedizin übernehmen sollte. Denn selbstverständlich bleibt ‘Hilfe’ für die Patient:innen als oberstes ärztliches Ziel bestehen. Eine der wichtigsten Aufgaben dürfte also sein, den Patient:innen oder ihren Vertreter:innen in dieser Situation den Unterschied zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation aufzuzeigen und so zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen.

Nicht ‘keine Medizin’, sondern Palliativmedizin

Diese andere Therapie wird von der Palliativmedizin geleistet. Auf der site der Universitätsklinik Jena findet sich  eine schöne Beschreibung: “Palliativmedizin ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung […]. Palliativmedizin bejaht das Leben und akzeptiert das Sterben als normalen Prozess. Sie will den Tod weder beschleunigen noch hinauszögern. Ziel in der Palliativmedizin ist der Erhalt der bestmöglichen Lebensqualität bis zum Tod. Die Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Krankheitsbeschwerden, psychischen, sozialen und spirituellen Problemen treten in den Vordergrund. Palliativmedizin ist interdisziplinär und multiprofessionell, d.h. die verschiedenen Berufsgruppen und Fachrichtungen in der medizinischen Versorgung arbeiten im Team miteinander.” Palliativmedizin umfasst die Behandlung und Betreuung nicht nur von von Patient:innen, sondern auch von deren Angehörigen.

Ärztliche und pflegerische Maßnahmen sind nicht vergeblich

Futility in der Medizin gibt es also so gesehen nicht: eine medizinische Maßnahme kann futile im Sinne von ‘nicht mehr nützlich’ im Hinblick auf Besserung und Heilung sein –  die ärztliche Maßnahme, Patient:innen Schmerzen oder Luftnot zu erleichtern, ist niemals futile im Sinne von ‘vergeblich’. Und da Patient:innen über die Maßnahmen entscheiden müssen, wäre es gut, wenn alle ihren Willen bilden und schon in jungen Jahren eine entsprechende Vorsorgevollmacht unterzeichnen.

 

Möglichkeiten des Organersatzes – nicht nur “Totenspende”

Während es im vorigen Beitrag um die “Totenspende” ging, habe ich heute weitere Möglichkeiten des Organersatzes zusammengestellt. Da gibt es sehr viel Neues, was Hoffnung macht, aber auch viele neue Probleme. Und das Fazit ist: noch hilft uns am meisten die “Totenspende”.

Organersatz durch Lebendspende

Man braucht nur eine Niere und hat zwei. Zumindest bei diesem Organ scheint also logisch: wenn alle, die nach medizinischen Gesichtspunkten für eine Spende in Frage kommen, eine Niere geben würden, bestünde kein Mangel mehr. In Deutschland sind zur Zeit mehr als 80 000 Patienten mit Niereninsuffizienz von der Dialyse (Blutwäsche ) abhängig; ihre Lebenserwartung, Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit ist je nach Alter und Grunderkrankung stark eingeschränkt. Warum ist die Lebendspende so relativ selten? Schaut man auf die Weltkarte, so gibt es, so weit überhaupt registriert, große Unterschiede; das hängt teilweise damit zusammen, dass Spender bezahlt werden. Eine solche Form von “Organhandel” aber ist in Deutschland verboten, und das ist wohl gut so. Außer den medizinischen Kriterien sind also viele rechtliche Vorgaben zu bedenken und praktisch ist in Deutschland eine Spende für Menschen, die nicht in einer besonderen Beziehung zum Spender stehen, ausgeschlossen. Die Vorgaben gelten ebenso für Teiltransplantationen, zB der Leber. Öffentlich bekannt in Deutschland wurde die Nierenspende des damaligen (2010) SPD-Vorsitzenden und jetzigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier für seine Ehefrau.

Organersatz durch Produktion:

1. Gewebezüchtung

Schon seit 100 Jahren werden Gewebetransplantationen vorgenommen, besonders der Augenhornhaut, in steigendem Maße auch von Blutgefäßen und Herzklappen, ebenso von der in der Verbrennungsmedizin sehr wichtigen Haut. Man kann natürliche Gewebe benutzen oder solche, die künstlich hergestellt wurden. Die Technik verfeinert sich laufend. Bei diesem “Tissue Engineering” wird biologisches Gewebe durch Zellkultivierung hergestellt. Es werden einem Menschen Zellen entnommen und auf Gerüsten kultiviert. Da das Gewebe von Menschen stammt, gibt es kein Problem mit Abstossungsreaktionen. Dabei liegt besondere  Hoffnung auf den Stammzellen, aus denen sich noch jedes Gewebe entwickeln kann; die Frage ist, wie man diesen Differenzierungsprozess steuern kann, um am Ende ein bestimmtes Gewebe entstehen zu lassen. Weiterhin wird geforscht an der Erzeugung völlig künstlicher Gewebe, wo also nicht menschliche Zellen, sondern künstliche Materialien benutzt werden. Auch hier gibt es schon Erfolge bei “einfacheren” Geweben, die nicht aus vielen verschiedenen Zellarten bestehen, wie z.B. Knorpel. Auch hier aber ist eine Transplantation von auf diesem Wege hergestellten Organen zur Zeit noch Zukunftsmusik.

2.  Organe aus dem 3 D – Drucker

Die Erforschung des Biodrucks ist über 50 Jahre alt; heute handelt es sich um einen wachsenden Markt. Es werden Biomaterialien, Zellen, benutzt, die dann in Schichten ausgedruckt werden, wobei eine Computersoftware zunächst eine dreidimensionale Vorlage erstellt hat. Das ist heute möglich für Gewebe mit einer einfachen Zellstruktur; so wurden Knorpel, Knochen und Hautgewebe bereits gedruckt und auch an Tiermodellen angewandt. Ein Organ wie die Niere allerdings besteht nicht nur aus einem Zelltyp. Das zweite bisher nicht gelöste Problem ist die Größe der Organe. Vor wenigen Jahren wurde bereits ein so komplexes Organ wie das Herz gedruckt, mit Klappen, Blutgefäßen usw, allerdings in der Größe etwa einer Kirsche. Weiterhin ist noch Vieles unbekannt: welche Stammzellen genau und wieviele werden gebraucht, um dann das gewünschte Gewebe entstehen zu lassen? Auch ist nicht bekannt, wie lange die Funktionalität eines solchen gedruckten Organs gesichert wäre.

Bei diesen Methoden sind große Erfolge zu verzeichnen; auch besteht eine realistische Hoffnung auf Lösung von noch bestehenden technischen Problemen in den nächsten  Jahren. Allerdings sollten wir uns inzwischen mit den neu aufgetauchten Fragen beschäftigen: was würde das Ideal einer personalisierten Transplantationsmedizin kosten? Würde sie für alle zugänglich sein können? Und schließlich: wo liegt ein Missbrauchspotential, z.B. wenn Technik vermehrt für Enhancement angewandt wird? Man denke an speziell konstruierte Organen für Hochleistungssportler sowie an militärische Anwendungen!

Organersatz durch Tierorgane

Der Gedanke, Tierorgane heranzuziehen ist alt. 1925 schrieb M.Bulgakow den Roman “Hundeherz”, zwar eine politische Metapher, in der aber das Problem der Identität eines Mischwesens antizipiert wurde. Praktisch scheiterten solche Transplantationen, weil der Organismus das als fremd empfundene Organ nach zunächst erfolgreicher Transplantation abstößt. Somit wurden immer mehr Versuche unternommen, Tiere dahingehend “anzupassen” dass sie mit dem fremden, menschlichen Organismus kompatibel sind. 2019 wurden z.B. Schweineherzen in Paviane implantiert, und vor wenigen Tagen kam die Nachricht der ersten Transplantation eines Schweineherzens in einen Menschen. Warum Schweine? Sie sind dem Menschen sehr ähnlich!

Genetische Veränderung der Tiere

Für derartige Transplantationen ist eine genetische Veränderung nötig. Im “einfachsten” Fall  verändert man die Fähigkeit des Tieres, Stoffe zu produzieren, die für Abstoßungen verantwortlich sind. Inzwischen gibt es aber auch schon die Methode, menschliche Organe im Tier zu züchten, indem menschliche Stammzellen in Tier-Embryonen eingepflanzt werden, sodass ein Mischwesen (Chimäre) entsteht. Probleme damit gelöst? Natürlich nicht. Auch hier werden die technischen Hindernisse immer mehr beseitigt werden, aber neben den biotechnischen und medizinischen Fragen wirft die Chimären – Erzeugung so wie auch die Xenotransplantation (Fremdübertragung) an sich philosophisch – ethische, rechtliche, psycho – soziale und politische Fragen auf. Dabei steht im Vordergrund die Frage nach dem “moralischen Status” eines so entstandenen Wesens: ist dieses nun ein Tier oder ein Mensch? Gilt dann das für Menschen gemachte Recht oder das Tierschutzgesetz? Das Letzte unterscheidet Tiere mit Wirbeln von anderen ohne solche, nicht wegen der Wirbel, sondern weil nach bisherigen Kenntnisse diese mehr Angst und Schmerz empfinden können. Hier entstehen völlig neue und sehr komplizierte Fragestellungen; das einzig Klare dabei ist bisher: je näher die Tiere dem Menschen kommen, (am Ende stehen die Affen aufgrund ihrer Ebenbildlichkeit), desto schwieriger werden die Antworten.

Ist ein Tier nur ein Ding?

Bezüglich der Benutzung von Tieren sind die wesentlichen Fragen, die Antworten dringend brauchen:

  • Ist es generell in Ordnung, Leben zu vernichten, um Leben zu schenken? Ist ein lebendes Wesen nur eine Art Behälter für Organe?
  • Sind Tiere Dinge, über die wir einfach nach unseren jeweiligen Bedürfnissen verfügen dürfen, bis hin zu einer Veränderung ihrer genetischen Substanz?
  • Wo muss die Grenze bei Chimärenerzeugung gezogen werden? Was bedeutet es für uns, wenn wir die Grenze Mensch – Tier einreißen?  (Die Vorstellung, dass sich menschliche Stammzellen im Tier zu Gehirnzellen entwickeln und die Frage, ob das entstehende Mischwesen dann ein menschliches Bewusstsein hätte, sind im Augenblick noch mehr der Science Fiction zuzuordnen, erscheinen am Horizont aber durchaus realistisch)

Kann die Philosophie antworten?

Im Anschluss an die Frage, ob man Tiere einfach so benutzen darf, tauchen weitere auf: das Schwein wird nach der Organentnahme eingeschläfert. Darf man das, und was heißt das, wenn es als Methode weitestgehend eingeführt würde? Wäre es dann sinnvoll, immer beide Nieren zu entnehmen für zwei Spenden? Was ist mit Organen, die nicht paarig sind? Welche Alternativen gäbe es für das Tier? Natürlich taucht hier dann auch die Frage auf, wieviel Schweine denn jährlich geschlachtet würden zur Nahrungserzeugung für Menschen!

Die Philosophin Christine Korsgard aus Harvard folgt Kant mit seinem Grundsatz der Selbstzweckhaftigkeit und verneint die Frage, ob Tiere eine Sache sind. Sie hätten, wie auch der Mensch, einen Sinn in sich selbst, existierten also für sich und nicht für Andere, und deshalb müsse ihre Würde respektiert werden. So wie: “Women don’t exist to make homes for men; people of color don’t exist to provide cheap labor for white people; animals don’t exist to provide food, labor, and organs for people”. Das zitiert der Journalist Dylan Mattews aus einer Korrespondenz mit der Philosophin.

Demgegenüber sagt der Philosoph Peter Singer, ein Vertreter des Utilitarismus, – der Richtung also, die den Nutzen für die größtmögliche Zahl von Menschen als Hauptkriterium anlegt- : er halte die Tötung des Tieres nach der Organentnahme nicht für unethisch, aber dafür müsse dem Schwein als Minimum ein artgerechtes Aufwachsen gegeben werden, also schon die Eltern des Tieres dürften nicht in Farmen mit Boxen gehalten werden, sondern müssten sich in natürlicher Umwelt aufhalten können.

Fazit

Wenn wir die gewünschte “Regenerative Medizin” weiter ausbauen wollen, gibt es schon einige Alternativen. Am erstrebenswertesten wäre, wenn wir rasch bessere Gewebe und ganze Organe herstellen könnten. Allerdings wird das, bis es auf breiter Ebene angewendet werden kann, noch viele Jahre brauchen. Also bleiben als Möglichkeiten des Organersatzes bis dahin nur: mehr Totenspenden, mehr Lebendspenden, oder doch mehr Tierspenden mit genetischer Veränderung, wenn wir das Problem der Organbedürftigen lösen wollen, die sonst sterben, aber mit einem neuen Organ noch lange und gut leben könnten.

Vielleicht ist der Jahresanfang als Zeit der guten Vorsätze also geeignet, jetzt einen Organspendeausweis auszufüllen?

 Literaturtipps

Danke fürBild von Heidi Bohez auf Pixabay

Organspende und Hirntod

Vor drei Jahren habe ich hier einen Beitrag zur Organspende eingestellt, der sich hauptsächlich mit dem Pro und Contra der Widerpruchslösung beschäftigte. Was hat sich inzwischen getan, wo stehen wir heute? In diesem Beitrag soll es nur um die Entnahme und Transplantation von Organen bei Hirntod gehen. Ein zweiter Beitrag über Lebendspende und neue Möglichkeiten von Organersatz wird folgen. …mehr lesen

Suizid und Beihilfe zur Selbsttötung

Suizid oder Selbsttötung ist keine Straftat. Jeder darf über sein Leben verfügen, das sagt auch das Gesetz. Probleme entstehen immer wieder da, wo Menschen für diesen Schritt Hilfe benötigen. Meist werden dann Ärzte gefragt. Bei diesen gibt es völlig entgegengesetzte, auf beiden Seiten aber begründete persönliche Einstellungen.

Das Recht: die Vorgeschichte

Anfang 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht das bis dahin bestehende Verbot der sogenannten geschäftsmäßigen Sterbehilfe, weil dieses das Recht auf selbstbestimmtes Sterben einschränke. Dieses Recht nämlich, so die Richter, schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und Hilfe von Anderen einzufordern. Es folgten neue Probleme, da als Helfer besonders die Ärzte gefragt waren, die aber einem Verbot durch die Berufsordnung gegenüberstanden. Zusätzlich beschloss der Bundesgesundheitsminister, Anträge von Suizidwilligen auf Bereitstellung eines tödlichen Medikaments abzulehnen. So kam es zu einem ganzen Jahr intensiver Diskussion, schließlich auch einer langen, sehr guten Bundestagsdebatte ohne Fraktionszwang, bei der mehrere Entwürfe als Vorschläge einer Regelung vorlagen. Mit  Stand August 2021 ist jetzt allerdings nur eins klar: eine Neuregelung für Deutschland wird es nicht mehr in der alte Legislaturperiode geben.

Wenn man informiert sein will, sollte man zunächst den Beschluss des BVG sehr genau lesen. Hätten das alle getan, wären wohl manche plakative Schlagzeilen in Medien entfallen, die behaupteten, dass sich jetzt jede*r 18- Jährige bei Liebeskummer mit ärztlicher Hilfe töten dürfe.  Das “Recht auf Selbsttötung“ , so ist beim BVG zu lesen, steht nur „zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen“  zu. Es gelten „dieselben Grundsätze wie bei einer Einwilligung in eine Heilbehandlung“  einschließlich von Beratung und Aufklärung. Der Suizidentschluss muss u.a. „unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung“  sein, darf aber auch nicht bloß Ausdruck einer „vorübergehende[n] Lebenskrise“ sein.

Selbstmord? Freitod? Suizid?

Beschäftigt man sich mit diesem schwierigen Thema, sollte man besonders auf die Begriffe achten. Zunächst ist scharfe Abgrenzung gegen “Tötung auf Verlangen” nötig, welche in Deutschland ja unverändert strafbar ist. Dann sollte man beachten, dass Selbsttötung oder Suizid ein wertfreier Begriff ist, der genau deshalb auch juristisch benutzt wird. Der “Selbstmord” beinhaltet eine Wertung, denn Mord ist ja ein Verbrechen. Auch “Freitod” hat ein begriffliches Problem in sich, denn nicht alle Suizide sind wirklich frei, also völlig selbstbestimmt. Das Gleiche gilt dann für die Beihilfe zum Suizid: hier sollte man Suizidassistenz benutzen oder eben auch “Beihilfe zum Suizid”. Es geht darum, dass ein voll selbstbestimmungsfähiger Mensch die „Tatherrschaft“ hat, und dass Helfer nur unterstützend wirken, z.B. indem sie das todbringende Medikament beschaffen. Formulierungen wie “Hilfe zum Suizid” oder “ärztlich unterstützter Suizid” sollte man aufgrund ihrer Unbestimmtheit vermeiden, juristisch machen sie “den Unterschied in der Tatherrschaft” nicht deutlich.

Alle, nicht nur Ärzte, dürfen jetzt in Deutschland Suizidassistenz durchführen. Praktisch wird aber am häufigsten der Versuch gemacht, Ärzte einzubinden, weil meist ein todbringendes Medikament gewünscht wird, welches Ärzte verschreiben müssten. Die Patienten sind ferner meist in ärztlicher Behandlung und wollen mit ihrem Arzt als Vertrauensperson auch darüber sprechen. Ferner muss ja eine krankheitsbedingte Einschränkung der freien Willensbildung ausgeschlossen werden.

Die Berufsordnung der Ärzte

„Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“. Das stand bis Mai 2021 in der Berufsordnung der Ärzte und wurde dann gestrichen. Das heißt, dass jetzt Ärzte frei und nur ihrem Gewissen folgend Suizidwillige unterstützen dürfen, ohne selbst dafür angeklagt zu werden. Es heißt nicht, dass Hilfe zur Selbsttötung ab jetzt als eine ärztliche Dienstleistung gilt. Ärzte haben kontroverse Einstellungen bei dieser neuen Herausforderung für das ärztliche Selbstverständnis. Wann werden denn Ärzte um eine solche Hilfestellung gebeten? Am häufigsten dann, wenn es sich um eine für die  Patienten unerträgliche Situation handelt. Das Problem dabei: Patienten wollen in diesen Fällen oft NICHT nicht leben, sondern nicht SO leben, was heißt, dass sie nur dann lieber sterben wollen, wenn ihre Situation sicher nicht veränderbar ist. Schon allein dies macht klar, wie vielfältig das Thema “Suizid” ist. Es geht um alles, was die Situation verändern kann, um Gesundheitssysteme und Gesellschaft genauso wie um das Individuum und seine Beziehungen. Wir wissen aus Studien, dass die sogenannte Suizidalität, also Gedanken daran, sich das Leben zu nehmen, zwar weit verbreitet, aber sehr schwankend ist, während die wirklich akuten lebensgefährdenden Phasen meist nur von kurzer Dauer sind, zum Beispiel im Rahmen von Verlusterleben und bei psychischen Erkrankungen. Speziell bei Jugendlichen spielen auch Scham über eine eigene Handlung, sozialer Ausschluss aus einer Gruppe oder Mobbing am Arbeitsplatz eine größere Rolle. Gerade hier sind aber Therapien meist erfolgreich, wenn sie rechtzeitig und unter Einbeziehung der Famiie erfolgen. An erweiterten Präventionsangeboten speziell für Kinder und Jugendliche wird gearbeitet.

Die Rolle der Ärzte beim assistierten Suizid

Schwere körperliche Erkrankungen sind meist keine ausreichende Erklärung für Suizidversuche. Die Krebsmediziner sagen uns, dass bei tödlichen Erkrankungen Suizidwünsche meist sogar nachlassen! Demgegenüber steht statistisch eine ansteigende Zahl von älteren Menschen ohne tödliche Erkrankung, die Suizidwünsche äußern. Von den Psychiatern wissen wir, dass Suizidgedanken meist unabhängig von psychischen Erkrankungen auftreten, Suizidversuche aber in der großen Mehrzahl im Kontext psychischer Erkrankungen erfolgen, bei denen doch die Freiverantwortlichkeit hinterfragt werden muss.

Was bedeutet die neue Rechtslage für Ärzte?

Gespräche über Suizidwünsche müssen möglich und “normal” werden, so dass Patienten leichter die Hemmschwelle überwinden können, mit ihren Ärzten zu sprechen. Ärzte müssen im Gespräch eine wertungsfreie Haltung einnehmen. Das klingt einfach und ist sehr schwer. Es setzt Schulungen der Ärzte voraus, vor allem aber eine Stärkung der “sprechenden” Medizin im gesamten Gesundheitssystem, in dem Patienten immer mehr darunter leiden, dass Ärzte einfach keine Zeit haben. Wer erlebt hat, wie zum Beispiel ärztliche Aufklärung vor medizinischen Eingriffen sich oft auf das Hinlegen eines möglichst rasch zu unterschreibenden Formulars beschränkt, weiß, welche Herausforderung das Einbeziehen von Gesprächen über Todeswünsche bedeutet. Das BVG hat aber bewusst und richtig hier einen Vergleich mit der ärztlichen Aufklärung thematisiert.

Ärzte müssen aber auch sehr gut über alle alternativen Möglichkeiten informiert sein und über Angebote sprechen, so z.B. alle Möglichkeiten der stationären und ambulanten Palliativmedizin. Tatsächlich kann diese ja in den allermeisten Fällen bei dem Wunsch von Patienten, nicht “so” weiterleben zu wollen ( also z.B. mit Schmerzen oder Luftnot ) sehr erfolgreich eingreifen. Gleichzeitig aber sollten Ärzte nicht beschönigen, sondern klarmachen, dass es wenige Fälle gibt, bei denen das nicht möglich ist und auch, dass Palliativmedizin nicht jedes Leiden gleich welcher Art behandeln kann. Ärztliche Aufgabe ist jetzt auch, den Patienten auf ihre direkte Frage zu sagen, ob (oder ob nicht) sie als behandelnde Ärzte in einem solchen Falle zur Hilfe bei einer Selbsttötung prinzipiell bereit wären, so dass die Patienten sich an andere Ärzte wenden können.

 

Suizidassistenz – was ist klar und was unklar?

Klar ist nach dem BVG – Urteil der Rechtsanspruch jedes Menschen auf Hilfe, wenn er oder sie den Entschluss zum Suizid gefasst hat. Klar ist jetzt nach der Änderung der Berufsordnung für Ärzte auch, dass Ärzte assistieren dürfen (nicht: müssen!). Dennoch bleiben viele Unklarheiten. Einige davon:

  • Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass es sich um eine freiverantwortliche Entscheidung handeln muss. Sollen Ärzte das wirklich allein beurteilen? Oder in einem Gremium? Wenn eine Krankheit die Willensbildung beeinflusst, z.B. bei schweren Depressionen, ist diese Feststellung sicher ärztliche Aufgabe. Was ist aber, wenn eine Krankheit das Motiv für den Entschluss darstellt? ( ” Ich falle wegen der Krankheit allen nur noch zur Last” oder ” Ich will SO nicht weiterleben”?) Hier geht es eher darum, Alternativen zu haben und anbieten zu können.
  • Da nach dem BVG das Recht auf Selbsttötung unabhängig vom Motiv besteht, also auch bei nicht kranken Menschen und unabhängig davon, ob die Gründe von außen nachvollziehbar sind, muss man auch fragen, wie und durch wen denn dann die genannten Bedingungen der Freiwilligkeit ( Nicht – Beeinflussung!) und Ernsthaftigkeit überhaupt überprüft werden könnten – und sogar sollten!

Assistierter Suizid, Aufgabe für Gesetzgeber

So bleibt noch viel zu tun und zu regeln, und ganz einig sind sich wohl alle im Augenblick nur über eins: das Urteil des BVG muss zu einer Verbesserung für die Menschen führen, auf dem Gesundheitssektor ebenso wie sozial und gesellschaftlich, sodass immer weniger Menschen Suizid “nur” deshalb planen, weil sie zuviel Schmerzen haben, weil sie im Alltag so alleingelassen werden, dass sie keinen Ausweg mehr sehen, oder weil sie meinen, jemandem zur Last zu fallen. Die Leopoldina hat sich mit verschiedenen maßgeblichen Faktoren beschäftigt und regt eine breite gesellschaftliche Debatte an. Suizidassistenz ist ein Thema, welches wie auch andere schwierige ethische Themen nach Regeln ruft, wobei es aber kaum eine ideale für Alle und Alles zutreffende gesetzliche Regelung geben kann, sondern nur “eine möglichst gute oder am wenigsten schlechte”, wie Prof. Woopen schon 2014 formulierte. Sicher ist nur eins: Wir brauchen bessere Aufklärung, mehr Palliativmedizin mit leichterem Zugang und mehr soziale Sicherheit. Das beste Ergebnis einer Präventionspolitik wäre, wenn Jeder das Gefühl haben könnte: ich habe ein Recht darauf, mich selbst zu töten; aber ich gebrauche dieses Recht nicht, weil ich andere Lösungen sehe.

 

Literaturtipps

Gronemeyer Reimer, A.Heller : Suizidassistenz 

Mathias Gockel: Sterbehilfe

F.v.Schirach: Gott

Hector Wittwer: Das Leben beenden. Über die Ethik der Selbsttötung

Ferner:

https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/AEM_Stellungnahme_Suizidhilfe_nach_BVerfG_Urteil_2020-06-24.pdf

https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2021_Diskussionspapier_Neuregelung_des_assistierten_Suizids.pdf

https://www.ethikrat.org/sitzungen/2020/recht-auf-selbsttoetung/

Hilfen bei Notlage – Suizidprävention:

https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/

https://www.telefonseelsorge.de/telefon/

https://www.bapk.de/angebote/seelefon.html

 

Dank für Bild an No-longer-here auf Pixabay