Wir und die anderen

Neujahrswunsch: Freiheit Solidarität ‘reloaded’

Zum erstenmal sind fast drei Monate seit dem letzten Beitrag vergangen. Eigentlich sollte sich der neue mit den Entwicklungen beim Thema ‘Triage’ beschäftigen, aber immer neue Meldungen, Gründe für Gedanken zu so vielen weiteren schwerwiegenden Themen, häuften sich. Offensichtlich sind die meisten Menschen überschwemmt und überfordert von alledem, was gleichzeitig auf uns einstürmt: ein nicht endenwollender grausamer Krieg – eine weiter bestehende Pandemie (oder Endemie, jedenfalls weiterhin bestehende Gefahr) –  die Klimakatastrophe, die immer weniger beherrschbar erscheint –  Hunger und Flucht, Hass und Terror –  zunehmende Ängste und auch hier bei uns viel zu viele finanzielle Nöte. Was denken, was tun? Ich habe mir Gedanken zu den beiden Begriffen gemacht, die in diesem Jahr nach meinem Eindruck am meisten missverstanden, fehlinterpretiert, sogar missbraucht wurden: Freiheit und Solidarität. Ich habe keine Lösungen, aber den Neujahrswunsch: Solidarität und Freiheit ‘reloaded’, neu gedacht.  …mehr lesen

Behinderung – Teilhabe – Partizipation

“Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden”, so klar sagt das Artikel 3 des Grundgesetzes. Behinderung muss mit Teilhabe und Partizipation zusammen gedacht werden. Teilhabe, Inklusion, Partizipation sind mehr als schöne Schlagworte. Die Fragen sind:  wer ist eigentlich “behindert”? Was geht uns das alle an? Und wie gehen wir damit um?

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Gendermedizin und Feministische Medizin

Gendermedizin, Feministische Medizin – alles nur neue Schlagworte? Etwas, was gerade “in” ist? Nein, denn endlich wird ein Problem wahrgenommen, bedacht, diskutiert und erforscht, welches schon lange bekannt ist, aber bisher nicht den nötigen Stellenwert bekam: die Tatsache, dass die Medizin bisher nicht differenziert arbeitet und dass sie selbst nicht etwa geschlechtsneutral ist, sondern männlich! Es geht darum, dass wir von einer Gleichberechtigung im Gesundheitswesen weit entfernt sind.

Rollenstereotype

Auch wenn schon 1754 Dorothea Christiane Erxleben (geborene Leporin) zum „Doktor der Arzeneygelahrtheit“ erklärt wurde, waren zum Medizinstudium Frauen in Deutschland erst ab 1908 zugelassen. Heute gibt es praktisch gleich viele Ärzte und Ärztinnen. Die Ausbildung ist für alle gleich und beruht auf einem Berufsbild, welches von Anfang an sogenannte “männliche” Eigenschaften wie Rationalität, Durchsetzungsvermögen, Führungsqualität, Entschlussfähigkeit, Objektivität zugrundelegte und sogenannte “weibliche” wie Empathie, Geduld, Zuhörenkönnen und Fürsorge, nicht einbezog. Das verstärkte sich immer mehr im Lauf der Jahre durch den wachsenden Stellenwert von Methodik, Statistik, Computereinsatz und Robotik, was als technische Anforderung wiederum männlich konnotiert ist.

Keine Gleichheit in der Medizin

Frauen erbrachten große Anpassungsleistungen in Studium und Weiterbildung, um als “gleich” wahrgenommen zu werden. So gingen die “weiblichen” Vorteile immer mehr verloren. Das System selbst tat ein Übriges, indem neue technische Medizin immer besser und die  “sprechende Medizin” immer schlechter finanziert wurde. Gleichheit gibt es dennoch nicht. Es werden nötige Rollen so gut ausgefüllt wie möglich. Nach Daten des Deutschen Ärztinnenbundes gibt es in der Frauenheilkunde ca 70%, in der Neurochirurgie  dagegen etwa 10% Frauen; Frauen verdienen weniger und erreichen zu einem viel geringeren Teil Führungspositionen. Warum ist das nicht etwas, was nur innerhalb der Ärzteschaft wichtig ist und was man wie viele Diskriminierungen anderer Gruppen betrachten, bedauern, ändern kann? Weil es um etwas viel Wichtigeres geht: um die Patienten. Die nämlich wenden sich zu großen Teilen auch dann, wenn sie gerade diese bitter nötig hätten, von der hochtechnisierten “Schul”- Medizin ab und suchen Hilfe bei alternativen Leistungserbringern einfach deshalb, weil sie jemand brauchen, der Zeit hat, ihnen zuzuhören und wo sie sich daher besser aufgehoben fühlen.

Patienten

Das lateinische Wort bedeutet “Duldende, Leidende”. Diese Menschen leiden genug an ihrem Kranksein; sie sollten somit nicht zusätzlich an der Medizin leiden, vielmehr müsste ihnen diese die besten Möglichkeiten bereitstellen. Nun zeigen aber Untersuchungen, dass es von Ärztinnen behandelten Patient*innen besser geht! Genauer, wenn man Daten von Sterblichkeit, Wiederaufnahme ins Krankenhaus oder postoperativen Komplikationen vergleicht, sieht man kleine, aber statistisch signifikante Differenzen. Interessant ist auch eine Studie aus den USA von 2018, die eine höhere Sterblichkeit von Patientinnen beschreibt, wenn männliche Ärzte behandelten, während bei Behandlung durch Ärztinnen die Sterblichkeit für Männer sowie für Frauen gleich war. Solche Ergebnisse zeigen, wie wichtig neue Forschung in diese Richtung ist und dass es sowohl für die Ausbildung wie auch die Berufsausübung in der Medizin Konsequenzen geben muss.

Die Fakten: Unterschiede bei Geschlechtern

Es gibt eine Reihe bekannter Unterschiede, wobei in vielen Fällen die Ursachen nicht klar sind, also was  “biologisch” begründet ist und was ganz andere Ursachen haben könnte. Männer haben eine geringere Lebenserwartung, weltweit ist bei ihnen die Tuberculose viel häufiger. Bei der akuten Hepatitis C zeigen Frauen in viel höherem Maße spontane Heilungen. Sie produzieren mehr Antikörper auf Grippe – Impfstoffe, jedenfalls bis zur Menopause. Obschon das Verhältnis bei Covid-19 relativ ausgewogen ist (es erkranken leicht mehr Frauen als Männer), versterben in den jüngeren Altersgruppen deutlich mehr Männer an der Erkrankung. Männer sterben auch eher an Krebs, Frauen haben mehr Nebenwirkungen bei den Therapien. Herzinfarkte bei Männern sind häufiger, der Verlauf bei Frauen häufiger tödlich. Symptome können völlig verschieden sein. Das gilt auch für Depressionen: Frauen erkranken “typisch”, bei Männern zeigt sich die Erkrankung oft eher durch Schmerzen, Suchtproblemen, Selbsttötungen (2020 bei Männern etwa drei mal so häufig). Asthma ist bei Frauen häufiger und verläuft schwerer und häufiger tödlich. Medikamente wirken völlig unterschiedlich, was mit dem zum Teil durch Sexualhormone gesteuerten Abbau der Wirkstoffe zusammenhängt. Das führt bei Frauen zu ganz anderen Nebenwirkungen, auch kann die gleiche Dosis für beide Geschlechter schwerwiegende Folgen haben: nicht ausreichend oder zu hoch sein.

Anderes Immunsystem

Dass große Unterschiede bestehen, zeigt sich besonders eindrucksvoll im Immunsystem, bei Infektionskrankheiten; tatsächlich gibt es auch für den bekannten immer wieder karikierten “Männerschnupfen” eine biologische Grundlage! Aber auch bei der Krebsentstehung gibt es Lebenstil – unabhängige Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So wurden Faktoren entdeckt, die vielleicht bald zu einer frühen Identifizierung von männlichen Hochrisikogruppen bei Darm- und Pankreaskrebs verhelfen. Das sind nur einige Beispiele. Fest steht aber immer mehr: Wir haben gelernt, dass der durchschnittliche Crashtest  – Dummy von 70 kilo nicht repräsentativ für alle sein kann. Jetzt könnte die Gendermedizin endlich zu mehr Gerechtigkeit in der Medizin führen – nicht nur für Frauen.

Geschlechtsspezifische Forschung?

Dazu brauchen wir nicht nur mehr, sondern andere Forschung. Fakten: die meisten bekannten Medikamente wurden nur an Männern erforscht. Studien finden an männlichen Mäusen statt. In klinischen Studien sind Frauen unterrepräsentiert. Auch die Genomforschung erfolgt in Europa hauptsächlich beim Mann. Welche Schlüsse wird man daraus ziehen und wie und worauf werden diese Anwendung finden? Obschon bekannt ist, dass geschlechtsspezifisch Symptome, Diagnostik, Verlauf ganz unterschiedlich sind,  – z.B. ist die Aktivität des sympathischen Nervensystems einfach verschieden, was beim Herzinfarkt wichtig ist –  ist der Bereich weiterhin bei Frauen untererforscht. Für die häufige Krankheit Diabetes werden männliche Referenzwerte zugrundegelegt. All das hat Konsequenzen, dennoch werden die Geschlechter gleich behandelt, was in unserem Zeitalter, wo wir von personalisierter Medizin sprechen, nur anachronistisch erscheinen kann. “Minderheiten” – Gruppen wie schwangere Frauen in der Psychiatrie sind ebenso völlig unerforscht wie Menschen verschiedener Ethnien, aber auch zu spezifischen Frauenerkrankungen, wie z.B. Endometriose, findet man kaum etwas.

Probleme von Studien

Die Hürden in der Forschung sind bekannt: spätestens seit Contergan gingen Studiendesigner Frauen am liebsten aus dem Weg. Von1977 – 1993 schloss die FDA sie ganz von der Phase I der klinischen Studien aus. Erst seit 2014 kam die Vorschrift des NIH, in Studien die gleiche Anzahl von Männern und Frauen einzubeziehen.

Hoffnung Künstliche Intelligenz ?

KI basiert auf Maschinellem Lernen, Big Data – also dem Management großer Datenmengen – und automatisierten Testmethoden, wobei dann die Auswertung der Daten wiederum automatisiert nach Verknüpfungen und Mustererkennungen sowie Wahrscheinlichkeitsberechnungen stattfindet. Leider ist bis heute der Traum von Objektivität durch KI nicht Wirklichkeit geworden. Man muss vielmehr sagen, dass es noch gar keinen sicheren Ansatz gibt, um Diskriminierung durch KI zu verhindern. Die bisherigen Erfahrungen zeigen zum Beispiel Apps, die Frauen bei Arbeitssuche diskriminieren, rassistische Algorithmen und in der Medizin ein Versagen von Anwendungen bei Menschen mit dunklerer Hautfarbe. Da jetzt schon DiGas zugelassen und von Kassen bezahlt werden, kommen drängende Fragen auf: gibt es überhaupt Daten über Genderaspekte, die dort eingeflossen sind? Und werden diese Aspekte bei den Zulassungen berücksichtigt?

Gerecht? Gleich? Fair?

Die Programmierer sind meistens männlich. Kennen sie diese Problematik, haben sie Zugang zu “weiblicher” Sichtweise? Es gibt das schöne Bild einer Aufnahmeprüfung, bei der sich Elefant, Fisch und Affe bewerben. Damit Gerechtigkeit herrsche, sollen alle die gleiche Aufgabe bewältigen: auf einen gezeigten Baum klettern. Das Bild zeigt besser als jede Abhandlung, dass gleiche Behandlung nicht automatisch fair und gerecht ist. Wenn man dies bis zum Ende durchdenkt und weiß, dass Programmierer letztlich ihre Sichtweise implementieren, versteht man Fragen der “feministischen Medizinerinnen“, ob wir nicht programmierende Frauen brauchen, die eine “feministische KI” bauen, nicht mehr als zugespitzt.

Viele Probleme

Auch ohne einzugehen auf grundlegende Problematiken, auf Theorien, was überhaupt Geschlecht ist, wie es konstruiert wird, was für Konsequenzen das alles für jeden Lebensbereich hat, kann man in der Medizin und besonders im Hinblick auf die Anwendung von KI ein besonderes Problem erkennen: in allen anderen Bereichen versucht man, um gerechter zu sein, eine direkte Referenz auf das Geschlecht ebenso zu vermeiden wie auf andere Kategorien ( z.B. Angabe von Ethnie bei Arbeitsplatz- und Wohnungssuche), aber in der Medizin brauchen wir aus den genannte Gründen unbedingt geschlechtergetrennte Daten.

Fazit:

Aus alledem kann man eigentlich nur den Schluss ziehen:

  • Frauen brauchen eine andere Medizin als Männer
  • Eine Medizin mit Einbeziehung der “weiblichen” Eigenschaften ist gut für alle Patienten
  • Die Medizin muss in allen Anwendungen einschließlich KI für alle fair werden – was nicht “gleich” heisst

Deshalb: ja, wir brauchen nicht nur viel mehr Forschung in der Gendermedizin und in der Praxis eine neue “geschlechtersensible Medizin”, sondern auch die politische Aktivität der feministischen Medizin! Besonders, wenn es um Gesundheit geht, kann nicht die eine Hälfte der Menschheit weiterhin nur “mitgemeint” sein, nachdem inzwischen feststeht, welche negativen Auswirkungen eine nur männliche Medizin hat. Vor allem aber darf diese männliche Medizin nicht mehr auf die Zukunftsanwendungen der Künstlichen Intelligenz übertragen werden.

 

Literaturtipps:

Vera Regitz-Zagrosek, St. Schmid-Altringer: Gendermedizin

Vera Regitz-Zagrosek, St.Schmid-Altringer: Die XX – Medizin

Safiya Umoja Noble: Algorithms of Oppression: How Search Engines Reinforce Racism

Danke für Bild von djedj auf Pixabay

 

 

 

 

Organspende und Hirntod

Vor drei Jahren habe ich hier einen Beitrag zur Organspende eingestellt, der sich hauptsächlich mit dem Pro und Contra der Widerpruchslösung beschäftigte. Was hat sich inzwischen getan, wo stehen wir heute? In diesem Beitrag soll es nur um die Entnahme und Transplantation von Organen bei Hirntod gehen. Ein zweiter Beitrag über Lebendspende und neue Möglichkeiten von Organersatz wird folgen. …mehr lesen

Suizid und Beihilfe zur Selbsttötung

Suizid oder Selbsttötung ist keine Straftat. Jeder darf über sein Leben verfügen, das sagt auch das Gesetz. Probleme entstehen immer wieder da, wo Menschen für diesen Schritt Hilfe benötigen. Meist werden dann Ärzte gefragt. Bei diesen gibt es völlig entgegengesetzte, auf beiden Seiten aber begründete persönliche Einstellungen.

Das Recht: die Vorgeschichte

Anfang 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht das bis dahin bestehende Verbot der sogenannten geschäftsmäßigen Sterbehilfe, weil dieses das Recht auf selbstbestimmtes Sterben einschränke. Dieses Recht nämlich, so die Richter, schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und Hilfe von Anderen einzufordern. Es folgten neue Probleme, da als Helfer besonders die Ärzte gefragt waren, die aber einem Verbot durch die Berufsordnung gegenüberstanden. Zusätzlich beschloss der Bundesgesundheitsminister, Anträge von Suizidwilligen auf Bereitstellung eines tödlichen Medikaments abzulehnen. So kam es zu einem ganzen Jahr intensiver Diskussion, schließlich auch einer langen, sehr guten Bundestagsdebatte ohne Fraktionszwang, bei der mehrere Entwürfe als Vorschläge einer Regelung vorlagen. Mit  Stand August 2021 ist jetzt allerdings nur eins klar: eine Neuregelung für Deutschland wird es nicht mehr in der alte Legislaturperiode geben.

Wenn man informiert sein will, sollte man zunächst den Beschluss des BVG sehr genau lesen. Hätten das alle getan, wären wohl manche plakative Schlagzeilen in Medien entfallen, die behaupteten, dass sich jetzt jede*r 18- Jährige bei Liebeskummer mit ärztlicher Hilfe töten dürfe.  Das “Recht auf Selbsttötung“ , so ist beim BVG zu lesen, steht nur „zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen“  zu. Es gelten „dieselben Grundsätze wie bei einer Einwilligung in eine Heilbehandlung“  einschließlich von Beratung und Aufklärung. Der Suizidentschluss muss u.a. „unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung“  sein, darf aber auch nicht bloß Ausdruck einer „vorübergehende[n] Lebenskrise“ sein.

Selbstmord? Freitod? Suizid?

Beschäftigt man sich mit diesem schwierigen Thema, sollte man besonders auf die Begriffe achten. Zunächst ist scharfe Abgrenzung gegen “Tötung auf Verlangen” nötig, welche in Deutschland ja unverändert strafbar ist. Dann sollte man beachten, dass Selbsttötung oder Suizid ein wertfreier Begriff ist, der genau deshalb auch juristisch benutzt wird. Der “Selbstmord” beinhaltet eine Wertung, denn Mord ist ja ein Verbrechen. Auch “Freitod” hat ein begriffliches Problem in sich, denn nicht alle Suizide sind wirklich frei, also völlig selbstbestimmt. Das Gleiche gilt dann für die Beihilfe zum Suizid: hier sollte man Suizidassistenz benutzen oder eben auch “Beihilfe zum Suizid”. Es geht darum, dass ein voll selbstbestimmungsfähiger Mensch die „Tatherrschaft“ hat, und dass Helfer nur unterstützend wirken, z.B. indem sie das todbringende Medikament beschaffen. Formulierungen wie “Hilfe zum Suizid” oder “ärztlich unterstützter Suizid” sollte man aufgrund ihrer Unbestimmtheit vermeiden, juristisch machen sie “den Unterschied in der Tatherrschaft” nicht deutlich.

Alle, nicht nur Ärzte, dürfen jetzt in Deutschland Suizidassistenz durchführen. Praktisch wird aber am häufigsten der Versuch gemacht, Ärzte einzubinden, weil meist ein todbringendes Medikament gewünscht wird, welches Ärzte verschreiben müssten. Die Patienten sind ferner meist in ärztlicher Behandlung und wollen mit ihrem Arzt als Vertrauensperson auch darüber sprechen. Ferner muss ja eine krankheitsbedingte Einschränkung der freien Willensbildung ausgeschlossen werden.

Die Berufsordnung der Ärzte

„Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“. Das stand bis Mai 2021 in der Berufsordnung der Ärzte und wurde dann gestrichen. Das heißt, dass jetzt Ärzte frei und nur ihrem Gewissen folgend Suizidwillige unterstützen dürfen, ohne selbst dafür angeklagt zu werden. Es heißt nicht, dass Hilfe zur Selbsttötung ab jetzt als eine ärztliche Dienstleistung gilt. Ärzte haben kontroverse Einstellungen bei dieser neuen Herausforderung für das ärztliche Selbstverständnis. Wann werden denn Ärzte um eine solche Hilfestellung gebeten? Am häufigsten dann, wenn es sich um eine für die  Patienten unerträgliche Situation handelt. Das Problem dabei: Patienten wollen in diesen Fällen oft NICHT nicht leben, sondern nicht SO leben, was heißt, dass sie nur dann lieber sterben wollen, wenn ihre Situation sicher nicht veränderbar ist. Schon allein dies macht klar, wie vielfältig das Thema “Suizid” ist. Es geht um alles, was die Situation verändern kann, um Gesundheitssysteme und Gesellschaft genauso wie um das Individuum und seine Beziehungen. Wir wissen aus Studien, dass die sogenannte Suizidalität, also Gedanken daran, sich das Leben zu nehmen, zwar weit verbreitet, aber sehr schwankend ist, während die wirklich akuten lebensgefährdenden Phasen meist nur von kurzer Dauer sind, zum Beispiel im Rahmen von Verlusterleben und bei psychischen Erkrankungen. Speziell bei Jugendlichen spielen auch Scham über eine eigene Handlung, sozialer Ausschluss aus einer Gruppe oder Mobbing am Arbeitsplatz eine größere Rolle. Gerade hier sind aber Therapien meist erfolgreich, wenn sie rechtzeitig und unter Einbeziehung der Famiie erfolgen. An erweiterten Präventionsangeboten speziell für Kinder und Jugendliche wird gearbeitet.

Die Rolle der Ärzte beim assistierten Suizid

Schwere körperliche Erkrankungen sind meist keine ausreichende Erklärung für Suizidversuche. Die Krebsmediziner sagen uns, dass bei tödlichen Erkrankungen Suizidwünsche meist sogar nachlassen! Demgegenüber steht statistisch eine ansteigende Zahl von älteren Menschen ohne tödliche Erkrankung, die Suizidwünsche äußern. Von den Psychiatern wissen wir, dass Suizidgedanken meist unabhängig von psychischen Erkrankungen auftreten, Suizidversuche aber in der großen Mehrzahl im Kontext psychischer Erkrankungen erfolgen, bei denen doch die Freiverantwortlichkeit hinterfragt werden muss.

Was bedeutet die neue Rechtslage für Ärzte?

Gespräche über Suizidwünsche müssen möglich und “normal” werden, so dass Patienten leichter die Hemmschwelle überwinden können, mit ihren Ärzten zu sprechen. Ärzte müssen im Gespräch eine wertungsfreie Haltung einnehmen. Das klingt einfach und ist sehr schwer. Es setzt Schulungen der Ärzte voraus, vor allem aber eine Stärkung der “sprechenden” Medizin im gesamten Gesundheitssystem, in dem Patienten immer mehr darunter leiden, dass Ärzte einfach keine Zeit haben. Wer erlebt hat, wie zum Beispiel ärztliche Aufklärung vor medizinischen Eingriffen sich oft auf das Hinlegen eines möglichst rasch zu unterschreibenden Formulars beschränkt, weiß, welche Herausforderung das Einbeziehen von Gesprächen über Todeswünsche bedeutet. Das BVG hat aber bewusst und richtig hier einen Vergleich mit der ärztlichen Aufklärung thematisiert.

Ärzte müssen aber auch sehr gut über alle alternativen Möglichkeiten informiert sein und über Angebote sprechen, so z.B. alle Möglichkeiten der stationären und ambulanten Palliativmedizin. Tatsächlich kann diese ja in den allermeisten Fällen bei dem Wunsch von Patienten, nicht “so” weiterleben zu wollen ( also z.B. mit Schmerzen oder Luftnot ) sehr erfolgreich eingreifen. Gleichzeitig aber sollten Ärzte nicht beschönigen, sondern klarmachen, dass es wenige Fälle gibt, bei denen das nicht möglich ist und auch, dass Palliativmedizin nicht jedes Leiden gleich welcher Art behandeln kann. Ärztliche Aufgabe ist jetzt auch, den Patienten auf ihre direkte Frage zu sagen, ob (oder ob nicht) sie als behandelnde Ärzte in einem solchen Falle zur Hilfe bei einer Selbsttötung prinzipiell bereit wären, so dass die Patienten sich an andere Ärzte wenden können.

 

Suizidassistenz – was ist klar und was unklar?

Klar ist nach dem BVG – Urteil der Rechtsanspruch jedes Menschen auf Hilfe, wenn er oder sie den Entschluss zum Suizid gefasst hat. Klar ist jetzt nach der Änderung der Berufsordnung für Ärzte auch, dass Ärzte assistieren dürfen (nicht: müssen!). Dennoch bleiben viele Unklarheiten. Einige davon:

  • Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass es sich um eine freiverantwortliche Entscheidung handeln muss. Sollen Ärzte das wirklich allein beurteilen? Oder in einem Gremium? Wenn eine Krankheit die Willensbildung beeinflusst, z.B. bei schweren Depressionen, ist diese Feststellung sicher ärztliche Aufgabe. Was ist aber, wenn eine Krankheit das Motiv für den Entschluss darstellt? ( ” Ich falle wegen der Krankheit allen nur noch zur Last” oder ” Ich will SO nicht weiterleben”?) Hier geht es eher darum, Alternativen zu haben und anbieten zu können.
  • Da nach dem BVG das Recht auf Selbsttötung unabhängig vom Motiv besteht, also auch bei nicht kranken Menschen und unabhängig davon, ob die Gründe von außen nachvollziehbar sind, muss man auch fragen, wie und durch wen denn dann die genannten Bedingungen der Freiwilligkeit ( Nicht – Beeinflussung!) und Ernsthaftigkeit überhaupt überprüft werden könnten – und sogar sollten!

Assistierter Suizid, Aufgabe für Gesetzgeber

So bleibt noch viel zu tun und zu regeln, und ganz einig sind sich wohl alle im Augenblick nur über eins: das Urteil des BVG muss zu einer Verbesserung für die Menschen führen, auf dem Gesundheitssektor ebenso wie sozial und gesellschaftlich, sodass immer weniger Menschen Suizid “nur” deshalb planen, weil sie zuviel Schmerzen haben, weil sie im Alltag so alleingelassen werden, dass sie keinen Ausweg mehr sehen, oder weil sie meinen, jemandem zur Last zu fallen. Die Leopoldina hat sich mit verschiedenen maßgeblichen Faktoren beschäftigt und regt eine breite gesellschaftliche Debatte an. Suizidassistenz ist ein Thema, welches wie auch andere schwierige ethische Themen nach Regeln ruft, wobei es aber kaum eine ideale für Alle und Alles zutreffende gesetzliche Regelung geben kann, sondern nur “eine möglichst gute oder am wenigsten schlechte”, wie Prof. Woopen schon 2014 formulierte. Sicher ist nur eins: Wir brauchen bessere Aufklärung, mehr Palliativmedizin mit leichterem Zugang und mehr soziale Sicherheit. Das beste Ergebnis einer Präventionspolitik wäre, wenn Jeder das Gefühl haben könnte: ich habe ein Recht darauf, mich selbst zu töten; aber ich gebrauche dieses Recht nicht, weil ich andere Lösungen sehe.

 

Literaturtipps

Gronemeyer Reimer, A.Heller : Suizidassistenz 

Mathias Gockel: Sterbehilfe

F.v.Schirach: Gott

Hector Wittwer: Das Leben beenden. Über die Ethik der Selbsttötung

Ferner:

https://www.aem-online.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/AEM_Stellungnahme_Suizidhilfe_nach_BVerfG_Urteil_2020-06-24.pdf

https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2021_Diskussionspapier_Neuregelung_des_assistierten_Suizids.pdf

https://www.ethikrat.org/sitzungen/2020/recht-auf-selbsttoetung/

Hilfen bei Notlage – Suizidprävention:

https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/

https://www.telefonseelsorge.de/telefon/

https://www.bapk.de/angebote/seelefon.html

 

Dank für Bild an No-longer-here auf Pixabay