Medizin: alternativ, komplementär, integrativ?
Liest man sich durch die Medien, scheint der ‘Krieg’ zwischen ‘Schulmedizin’ und anderen Heilmethoden eher zuzunehmen. Unser Gesundheitssystem hat viele Probleme, die alle in einem münden: zu wenig Zeit für die Patienten. Diese suchen dann nach Alternativen, wobei hier allerdings vereinfacht alles gemeint ist, was eben nicht ‘Schulmedizin’ ist, die in diesem Zusammenhang negativ konnotierte Schulmedizin, der wir aber zu einem großen Teil unsere gestiegene Lebenserwartung verdanken, Beherrschung von Seuchen, besseres Überleben von Neugeboren und vieles mehr. Immerhin: im Frühjahr 2024 gaben 81% der Befragten an, dass sie dem medizinischen Personal und dem Gesundheitspersonal vertrauen.
Der Orang Utan, Phytotherapie und Selbstmedikation
Die Nachricht ging um die Welt: Rakus, ein Orang-Utan in Sumatra, behandelte seine Wunde erfolgreich mit der Pflanze Akar Kuning, die bekannt für ihre antientzündlichen Wirkungen ist und in der traditionellen asiatischen Medizin zur Wundheilung und gegen Schmerzen und Fieber eingesetzt wird. Zum ersten Mal wurde diese Selbstmedikation direkt beobachtet und die Wundheilung fotografisch dokumentiert. Die Forscher berichteten, dass die offensichtlich schwere Wunde innerhalb von Tagen komplett verheilte. Phytotherapie als Selbstmedikation bei einem Affen!
Zoopharmakognosie – Tiere wenden Naturheilkunde an
Dass Tiere Selbstmedikation betreiben ist nichts Neues. Schimpansen behandeln mit Pflanzen Wurmbefall und Durchfälle, auch Bonobos und Gorillas setzen Heilpflanzen medizinisch ein. Vögel legen ihre Nestern mit Pflanzen aus, die gegen Insekten schützen und die auch von Menschen beispielsweise gegen Juckreiz benutzt werden. Untersuchung der eingesetzten Pflanzen ergab wirksame chemische Substanzen. Interessant im Fall des Orang-Utans ist auch die Vorgehensweise: Der Affe zerkaute die Blätter, aber schluckte sie nicht; er stellte sozusagen eine Lotion her, die er dann auftrug, wobei er auch noch den Bezirk mit den Blättern zudeckte. Die Forscher beobachteten auch, dass der Affe ihn dieser Zeit seine Ruhezeiten stark verlängerte.
Uraltes Wissen
Berichte über Wundbehandlung beim Menschen gibt es seit mehr als viertausend Jahren. Wandmalereien und Aufzeichnungen aus dem alten Ägypten beschreiben Behandlungen mit Leintüchern (die man für die Mumien herstellte). Diese Tücher wurden in Honig getränkt und aufgelegt. Noch viel älter aber scheinen Kenntnisse zu sein, die offensichtlich bei Menschenaffen existieren und bei diesen ebenso wie bei den frühesten Menschen genutzt wurden. Zur Erinnerung: Große Menschenaffen haben etwa 97,5 % ihres Genoms gemeinsam mit uns.
Heilpflanzen anwenden
Wichtig ist auch der Prozess der Herstellung und Anwendung. Die beobachtenden Biologen teilten mit, dass die Zubereitung durch Kauen der Blätter etwa 30 Minuten und die Behandlung der Wunde dann weitere 7 Minuten dauerte. Sie schreiben, dass diese spezielle Pflanze sonst von den Affen nicht oder kaum konsumiert würde. All das spricht dafür, dass es sich nicht um eine zufällige Anwendung handelte, sondern dass bewusst ein Heilmittel eingesetzt wurde. Angemerkt werden sollte auch, dass Rakus sein Pflanzenerzeugnis nur auf die Wunde verteilte und nirgendwo sonst am Körper anwendete.
Woher kommt die Kenntnis
Woher wusste der Orang- Utan, welche Pflanze zum Heilen der Wunde eingesetzt werden kann und wie sie zubereitet werden musste? Die verschiedenen Theorien gelten für Affen genauso wie für Menschen:
- Es gibt ein angelegtes Wissen, welches genetisch und epigenetisch weitergegeben und einfach schon bei der Geburt vorhanden ist.
- Das Wissen wird erworben durch eigene gute und schlechte Erfahrungen sowie Zufallsereignisse.
- Das Wissen wird sozial erworben, indem man durch Andere unterrichtet wird und lernt.
Da erkennen wir uns durchaus wieder: Wir spüren brennende Schmerzen bei Berührung von Brennnesseln und vermeiden danach direkten Haut-Kontakt mit dieser Pflanze; wir machen die Erfahrung, dass wir bestimmte Lebensmittel nicht vertragen und meiden sie dann. – In Schule und Studium wird uns Wissen weitergegeben. – Alexander Fleming entdeckte vor fast hundert Jahren zufällig, dass an einer Stelle seines Versuchspräparates, wo sich Schimmelpilze ausbreiteten, keine Bakterien wuchsen. Diese Zufallsentdeckung führte zum Antibiotikum Penicillin.
Genetik und Epigenetik
Längst ist bekannt, dass wir mehr als die Summe unserer Gene sind. Die Epigenetik als Teilgebiet der Biologie beschäftigt sich mit genetischen Veränderungen, die unter Einfluss von Lebensumständen stattfinden und an die nächste Generation weitergegeben werden können. So weisen zum Beispiel eineiige Zwillinge, die bei Geburt völlig identisch sind, nach verschiedenden Lebenwegen später völlig andere Merkmale auf. Da diese an die Nachkommen weitergegeben werden können, können in der nächsten Generation mit höherer Wahrscheinlichkeit beispielsweise bestimmte Krankheiten ausbrechen. Neueste Studien zeigen: “wer sich längere Zeit ungesund ernährt, verändert womöglich dauerhaft wichtige Schaltstellen in seinem Erbgut. Eltern steigern dadurch nicht nur das eigene Risiko auf Stoffwechselerkrankungen, sondern auch das ihrer künftigen Nachkommen”.
Synthetische Stoffe, neue Medizin
Erst im 19.Jahrhundert begann die industrielle Herstellung wirksamer Substanzen aus Pflanzen, wie Morphin, Chinin, Cocain, Atropin. In dieser Zeit lag die Lebenserwartung unter 50 Jahren, für fast die Hälfte der Todesfälle waren Infektionskrankheiten verantwortlich; Penicillin und Insulin standen noch nicht zur Verfügung. Zu Beginn des ersten Weltkrieges gab es etwa 300 Wirksubstanzen, heute sind es mit steigender Tendenz etwa 3000. Das erste völlig synthetische Arzneimittel war die Salicylsäure, aus der das bekannte Aspirin entstand.
Eine Erfolgsgeschichte der neuen Medizin also, allerdings gab es gleichzeitig Bewegungen, die für die sogenannten “natürlichen Heilmethoden” warben wie beispielsweise S. Kneipp.
Phytotherapie, die Pflanzenheilkunde
Selbstmedikation ja oder nein?
Es sind viele Gründe für Selbstmedikation denkbar. Ja, auch knappe Arzttermine zum Beispiel, ein fehlendes Grundvertrauen in die ‘Schul’-Medizin, Angst vor Nebenwirkungen der Medikamente, der Glaube, dass etwas ‘gut tut’, wenn es ‘natürlich’ ist und wenn man es vorsorgemäßig einnimmt. Ein wichtiger Punkt ist die medizinische Kommunikation, die sich zwar in letzter Zeit etwas verbessert hat, aber offensichtlich nicht genug: so bleibt es leichter, den Heil-Versprechen von Firmen, die nicht rezeptpflichtige Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmitt vermarkten, blind zu glauben.
Menschen glauben weiterhin gern, dass Heilmittel aus Pflanzen weniger schädlich seien; dabei finden sich die stärksten Gifte in Pflanzen. Dass Schmerzmittel beispielsweise zu schweren Leberschäden führen können, wissen manche inzwischen und überschreiten bei Selbstmediktion wenigstens nicht die angegebene Dosis; dass das aber auch bei ‘harmlosen Nahrungsergänzungsmitteln oder Teezubereitungen gilt, haben sich die Wenigsten klargemacht: hier scheint man sich oft auf “Mehr ist mehr” zu berufen, sonst wären beispielsweise die steigenden schweren Nebenwirkungsfälle bei Kurkuma – haltigen Präparaten nicht erklärlich.
Fazit
Ja, es gibt heilende Pflanzen und auch ein uraltes Wissen über die Anwendung und Wirkung. Bei der Selbstmedikation allerdings sollten wir sehr vorsichtig sein, ob es sich um Vitamine, Nahrungsergänzungsmittel oder einfach Teezubereitungen handelt. Vor allem aber sollten wir beachten, dass alle freiwillig und ohne ärztliches Rezept eingenommenen Mittel den behandelnden Ärzten mitgeteilt werden müssen! Nur dann können pflanzliche Heilmittel eine vielleicht vorhandene heilende Wirkung entfalten, ohne zu unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen mit anderen verschriebenen Medikamenten zu führen oder letztlich toxisch für den Menschen zu werden.
Literaturtipps
Landgraf Christine: Die heilende Kraft der Natur
Leven Karl Heinz . Geschichte der Medizin: von der Antike bis zur Gegenwart
Nach Alabama: sind Embryonen Kinder?
Im Februar 2024 ging das Urteil aus Alabama/USA um die Welt: ein Embryo sei ein Kind, ein kryokonservierter Embryo ein Mensch mit Persönlichkeitsrechten. Embryonen seien unabhängig von ihrer Lokalisation eben Kinder. Daraus ergaben sich neue juristische Fragestellungen und vor allem eine völlige Verunsicherung von Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch: werden Patient:innen und Ärzt:innen jetzt strafrechtlich verfolgt? Als erste Konsequenz jedenfalls stellte die Universität Alabama ihr Programm für Künstlichen Befruchtung ein, stoppte die in-vitro-Befruchtung.
Was ist eigentlich ein Embryo?
Jeder scheint es irgendwie zu wissen, dennoch sieht man bei der Durchforstung von Medienartikeln, dass hier wieder ein Begriff in vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt wird. Beginnen wir mit der Biologie: nach der Befruchtung (Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle) entsteht eine sich teilende Zellansammlung, der Embryo. Hier befinden sich die sogenannten Stammzellen, das sind totipotene (alleskönnende) Zellen, aus der dann differenzierte Zellen des Organismus ( also z.B. Leberzellen, Hirnzellen, Muskelzellen) entstehen können. Diese sogenannte Blastocyste erreicht beim natürlichen Befruchtungsvorgang die menschlichen Gebärmutter etwa am 5. Entwicklungstag.
Nidation (Einnistung) – noch viel unbekannt
Die Gebärmutter muss vorher schon durch die Hormone entsprechend vorbereitet worden sein. Dieser Teil muss bei einer künstlichen Befruchtung durch Hormogabe nachgeahmt werden und der Transfer der im Reagenzglas erzeugten Embryonen findet dann um diesen 5. Tag statt. Es folgt die Einnistung (Nidation) des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut, ein sehr komplexer Vorgang, von dem wir auch heute nicht genau alle Bedingungen und Schritte kennen. Nach der Einnistung wird der Embryo zum Fötus.
Embryoide – ein neues Embryomodell?
Selbst diese Voraussetzungen stimmen heute nicht mehr so ganz: schon länger findet Forschung an künstlich aus Stammzellen erzeugten Embryomodellen statt, den Embryoiden , die bestimmte Entwicklungsstadien erreichen können und im Tierversuch auch bereits in eine Gebärmutter implantiert wurden. Hier würde also nicht einmal die Definition mehr stimmen, dass ein Embryo aus der Verschmelzung von Eizelle und Samenzellen hervorgeht!
Embryo: vor Einnistung – Fötus: nach Einnistung.
Bleiben wir aber bei der alten Definition. Die Probleme liegen auch hier viel tiefer. Zunächst zum Juristischen. In Deutschland ist der juristische Status eines Embryos bis zur Einnistung der eines Nondum conceptus („noch nicht empfangen“); der des Fötus nach der Einnistung der eines Nasciturus („wird geboren werden“). Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass ab der Einnistung der Nasciturus ein einmaliges unverwechselbares Wesen ist, dass sich als Mensch entwickelt und somit Menschenwürde trägt. Nach unserer Rechtsdefinition trifft also die Alabama-Definition “Embryo ist ein Kind” nicht zu.
So weit so einfach. Eine Zelle ist kein Mensch, eine Zellansammlung auch nicht. Ein Embryo ist somit kein werdender Mensch, sondern er kann unter bestimmten Bedingungen zu einem solchen werden. Es wäre schon viel geholfen, wenn die beiden Begriffe Embryo und Fötus nicht ständig verwechselt oder als gleichbedeutend verwendet würden.
Embryo: kein Kind, keine Sache
Allerdings ist ein Embryo auch nicht nur einfach eine Sache, mit der man beliebig verfahren kann. Das Embryonenschutzgesetz in Deutschland sagt: Als ‘Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag’.
Embryonenschutzgesetz
Zwar wird das Embryonenschutzgesetz gemeinsam mit dem Stammzellengesetz heute wieder als veraltet und zu restriktiv diskutiert, da es Forschung an humanen frühen Embryonen, mit der die Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Erkrankungen verbunden ist, stark einschränkt; man sieht aber in dieser Definition etwas ganz Wesentliches: wenn (und nur wenn) erforderliche weitere Voraussetzungen vorliegen, hat ein Embryo die Möglichkeit, sich zu einem Individuum zu entwickeln. Die beste Definition für den frühen humanen Embryo, ob nun natürlich oder im Reagenzglas erzeugt, wäre also: Zellverband, der sich unter bestimmten Voraussetzungen zu einem menschlichen Wesen entwickeln kann. Ein Embryo ist somit kein Mensch, er kann unter bestimmten Bedingungen aber zu einem solchen werden.
Alte Philosophie, neue Probleme
Dieser Gedanke der Potentialität geht schon auf Aristoteles zurück: im Embryo selbst (als Träger des menschlichen Erbgutes) ist schon die Möglichkeit enthalten, ein Mensch zu werden; ob er sich aber dazu entwickelt, würde letztlich auch etwas AKZIDENTELLES ( etwas Zusätzliches, aber auch Zufälliges, nicht Einzuplanendes) voraussetzen, und erst dann wäre der ontologische Status, sein SEIN als Mensch, gegeben. Aber es gibt viele verschiedene Ansätze in der Philosophie: ein anderer geht aus von der Individualwürde und spricht dem Embryo nicht nur humanen, sondern auch personalen Status zu. Hier würde der Embryo nicht zum Menschen, er wäre bereits einer; in diesem Fall müsste man vor ihm aber nicht nur eine höhere Achtung als “Nicht -Sache” haben, sondern ihm gleich Menschenwürde zuschreiben, was im Endeffekt heißt, dass er die gleichen Grundrechte besitzen würde ( z.B. Lebensschutz). Mehr zu allen philosophischen Ansätzen im weiterhin sehr lesenswerten Artikel von 2009 “Die Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos” von Jan P. Beckmann.
Die “Pille danach”
Wer genau hinschaut, müsste sich bei dieser Diskussion zwar nicht unbedingt mit der künstlichen Befruchtung beschäftigen, nicht mit den komplexen wissenschaftlichen Problematik von heutigen und zukünftigen Forschungsthemen ( wie z.B. der künstlichen Gebärmutter), sondern beispielsweise nur mit der inzwischen alltäglich benutzten “Pille danach”; diese ist als Notfall- Verhütungsmittel erhältlich, hat aber auch einen immer noch nicht ganz geklärten Einfluss auf die Nidation nach bereits stattgefundener Befruchtung. Insofern wäre sie kein Verhütungsmittel, sondern auch ein Früh-Abtreibungsmittel. Die gleiche Problematik besteht bei allen Mitteln, die die Nidation des schon entstandenen Embryos verhindern, wie Spiralen und andere mechanische Mittel mit und ohne Hormone durch ihre Einwirkung auf die Gebämutterschleimhaut. Wer das “Personsein” des Embryos zugrundelegt, wie es jetzt das Alabama-Gesetz wieder tut, müsste konsequenterweise also alle diesbezüglichen Mittel ebenfalls ablehnen.
Fazit
Die neue Rechtslage in Alabama betrifft uns nicht, aber sie geht uns viel an. Wir könnten, statt nur reflexartig “rückständige” Gesetze und politische Tendenzen zu verurteilen, uns einmal wieder mehr mit den Begriffen beschäftigen und überhaupt mehr darüber nachdenken, was wir persönlich und als Gesellschaft anstreben und anerkennen wollen. Die Wichtigkeit der Definitionen ist weiterhin nicht zu unterschätzen, denn diese bestimmen letztlich unsere Gesetze ebenso wie unser Zusammenleben.
Literaturtipps
Jan P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der Modernen Medizin
Eizellspende – Aufhebung des Verbots?
Zwei Länder verbieten die Eizellspende in der EU: Deutschland und Luxemburg. In Deutschland wird gerade wieder nachgedacht über eine Aufhebung des Verbots. Wie oft bei schwierigen Themen kann man gleich zu Anfang feststellen: es wird nicht die eine, gute und alles umgreifende Lösung geben. Aber die Debatte ist wichtig, und am Ende muss eine für alle akzeptable und rechtssichere Lösung stehen. Was also spricht für, was gegen das Verbot? Eizellspende – Aufhebung des Verbots?
Lebensdauer – Todeszeitpunkt
Ärzte und Ärztinnen kennen die Frage: Wie lange habe ich noch? Oft wird die Frage nach Lebensdauer und Todeszeitpunkt sofort bei der Diagnose ‘Krebs’ gestellt, fast immer am Ende eines langen Leidens – Prozesses, wo es darum geht, welcher Behandlungsweg weiter eingeschlagen werden soll.
Lebensdauer – Todeszeitpunkt: sinnvolle Frage oder Neugierde?
Man kann die Frage aber auch ‘nur so’ stellen – das Internet macht es möglich. Tatsächlich kann, wer möchte, die verschiedensten sites finden; zum Teil sind diese bewusst als eine von mehr oder weniger spielerischen Grusel-Möglichkeiten angelegt, teilweise führen sie aber zu Sichtbarmachung der allgemeinen Lebenserwartung. Das kann sehr sinnvoll sein: hier wird zum Beispiel im Endeffekt aufgezeigt, wie sehr die allgemeine Lebenserwartung für Einzelne beinflussbar ist. So könnte eine solche site beispielsweise dazu führen, dass Menschen sehen, wieviel Lebensjahre sie gewinnen könnten, wenn sie lang Gewusstes in die Tat umsetzen würden: sich gesünder ernähren, nicht mehr rauchen, Alkoholkonsum einschränken, mehr Bewegung in ihren Alltag einbauen und soziale Beziehungen stärken.
Allgemeine Lebenserwartung und persönliche Lebensdauer
Es geht dabei aber immer um die allgemeine Lebenserwartung. Die Antwort ist eine statistische und kann für eine Einzelperson nur aussagen: so wie du jetzt bist, und wenn alles so bleibt, wirst du in dieser Gesellschaft und in diesem Land etwa – sagen wir – bis zum 92. Lebensjahr leben. Diese Antworten der Statistiken können nicht den Einzelnen erfassen, nicht wissen und einrechnen, ob du mit nur 56 im nächsten Jahr einen tödlichen Unfall erleidest oder einen Herzinfarkt, oder ob du nach mehrfachen Infektionen vielleicht niereninsuffizient wirst und eine Dialyse benötigst oder auf eine Transplantation wartest uvm.
Ganz anders ist das bei den Fragen, die in der Medizin an Ärzt:innen gerichtet werden oder die Ärzt:innen und Pfleger:innen an die Medizin als Wissenschaft richten. Hier wird unter Vorlage aller bekannten medizinischen Daten gefragt, wie sich die ganz persönliche Lebenserwartung darstellt; die Frage also ist, wie lange der Mensch X mit den Untersuchungsdaten Y noch leben wird. Kann man diese Frage heute beantworten? Um es gleich zu sagen: nein, wenn es um einen genauen Todeszeitpunkt geht. Allerdings werden die Annäherungswerte immer besser. Das bringt Chancen und Probleme mit sich.
In die Zukunft schauen: was können wir schon?
Die Frage ist so alt wie die Menschheit: Seit der Antike kennen wir die Orakel, Wahrsager hatten Zulauf bei Jahrmärkten, Tarotkarten sind weiterhin beliebt. In allen Fällen geht es um reine Auslegung. Heute gibt es zur Bestimmung von Lebensdauer – Todeszeitpunkt Algorithmen, die für bestimmte Gruppen eine Art Standortbestimmung vornehmen können. Dazu gehört beispielsweise das für gebrechliche alte Menschen in häuslicher Pflege von Wissenschaftlern der Universität Ottawa konzipierte Projekt Respect.
Dieses in Kanada entwickelte tool basiert auf mehreren Fragen und gibt am Ende eine Einschätzung, mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Monaten bis fünf Jahren der Tod eintritt. Solche Voraussagemodelle sind schon spezifischer, aber weit entfernt von einer genauen Voraussage. Perfektionierter wirken da die in Laboruntersuchungen feststellbaren Biomarker.
14 solche Biomarker können die Wahrscheinlichkeit berechnen, innerhalb der nächsten 5-10 Jahre zu sterben. Über längere Zeiträume gibt es bisher kaum Möglichkeiten, besonders bei älteren Menschen. Aber über eine Kombination dieser Biomarker mit anderen Untersuchungsbefunden ist eine immer genauere Einschränkung zu erwarten.
Todeszeitpunkt – sollten wir nähere Bestimmung anstreben?
Einiges spricht dafür:
- Jede frühzeitige Erkenntnis über die individuelle Lebenserwartung erleichtert auch noch mögliche präventive Maßnahmen, dazu eine sinnvolle Therapieplanung.
- Möglichst genaue Kenntnisse über das Sterberisiko können Ärzt:innen bei der Einschätzung auch des Risikos einer Operation helfen. Ist der/die zu Operierende zu gebrechlich für den Eingriff? Welches Positive ist für die Patient:innen im Ganzen von dem Eingriff zu erwarten?
- Auf der Grundlage solcher Kenntnisse könnte leichter bei unheilbar Kranken über die am besten einzuschlagende Behandlung entschieden werden. Patient:innen könnten klarer entscheiden, ob sie beispielsweise lieber das Krankenhaus verlassen und zu Hause durch einen ambulanten Palliativdienst betreut werden wollen.
Und Vieles dagegen:
- Eine solche statistische Risikoeinschätzung könnte einen zu hohen Stellenwert in der individuellen Medizin bekommen und es würden sich unzählige neue Fragen ergeben: dürften Krankenkassen fordern, dass Algorithmen über Operationen entscheiden, die für Patient:innen noch finanziert werden würden? Dürfte eine KI die Patient:innen in Gruppen einteilen, welche generell noch Leistungen (zum Beispiel Medikamente, Dialyse) erhalten und welche nicht? Wäre eine solche Einteilung nach individuellen Untersuchungsbefunden gerechter als eine Einteilung nach Alter, die ja von Gesundheitsökonomen als objektives und gerechtes Kriterium bezeichnet und in verschiedenen Ländern schon angewendet wird?
- Wie weit könnten Ärzt:innen damit unter Druck gesetzt werden? Würde von ihnen verlangt werden, dass sie im Gespräch zur gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patient:innen nur noch solche Therapien vorstellen, die aufgrund der Einteilung des Algorithmus ‘lohnend’ sind?
- Ergebnisse von Vorhersagen können Patient:innen stark beinflussen. Das größte Problem ist die ‘selbsterfüllende Prophezeiung’. “Alles lohnt sich bei mir ja sowieso nicht” kann zu Depression und Selbstaufgabe führen, was für jeden Heilungsprozess sicher nicht förderlich ist. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass Patient:innen einerseits alles gemeinsam mit Ärzt:innen entscheiden sollen, aber andererseits ein ‘Recht auf Nichtwisssen’ haben. Wie und wodurch müssten alle Patient:innen den Wunsch nach Nichtwissen festlegen und zur Kenntnis Aller bringen?
Lebensdauer – Todeszeitpunkt kennen: wollen wir das überhaupt?
In dieser Frage stecken zwei verschiedene Gedanken. Was wollen wir als Gesellschaft? Und: Was will ich für mich? Die erste Frage verlangt eine breitere gesellschaftliche Diskussion als bisher geführt und zwar bald; denn natürlich hängt diese Frage auch zusammen mit unserer demografischen Entwicklung, mit drohenden immer größeren Problemen bei der Finanzierung im Gesundheitswesen, Standortbestimmungen der Krankenkassen, Leistungsmöglichkeiten der Krankenhäuser. Steigt der Kostendruck immer weiter, wäre gar die Konsequenz möglich, dass solche immer besser werdenden Tests zur Bestimmung der Lebenserwartung zu einer Pflicht werden könnten? Der Deutsche Ethikrat hat schon 2017 in seiner Stellungnahme zu Big Data in der Gesundheit zumindest klargestellt, dass der Gebrauch von derartigen in der Zukunft möglichen Risikoprofilen für den Gebrauch der Gesetzlichen Krankenkassen verboten werden sollte, schon allein deshalb, weil ein solcher Gebrauch das Solidaritätsprinzip aushebeln würde.
Mit der zweiten Frage: “Was will ich für mich” sollte sich allerdings Jeder bewusst auseinandersetzen. Auch wenn es offensichtlich einzelne Menschen gibt, die ein ewiges Weiterleben für erstrebenswert halten, (Stichwort beispielsweise Kryokonservierung) trifft das wohl für die Mehrheit nicht zu. Ob notgedrungen oder aus fundierten Überzeugungen bejahen Menschen die Tatsache, dass wir sterben und dass neue Generationen nach uns leben werden. Nachdenken müssen wir viel intensiver über die Frage, was jeder Einzelne für sich für Lebensqualität hält; darüber, was für mich selbst ‘sinnvoll’ erscheint, dass ich vielleicht weniger Angst vor dem Tod habe als vor einem für mich persönlich nicht mehr sinnvollen Leben und vor allem vor einem Leben in Schmerzen und Not. In diesem Zusammenhang müssen wir, jeder Einzelne, tatsächlich auch mehr über ‘sinnvolle Medizin‘ nachdenken und darüber, dass es ‘vergebliche Medizin’ nicht gibt. Darüber hinaus darüber, ob wir über alles, was man untersuchen kann, inklusive Voraussagen, informiert werden wollen oder nicht, und wir müssen solche Entscheidungen dann auch kommunizieren. Sprechen mit Menschen unseres Vertrauens, schriftlich aufnehmen in unsere Vorsorgevollmacht.
Dank für Bild an Lucas Pezeta auf Pexels
Literaturtipps
Thomas Ramge: Wollt Ihr ewig leben?
Thomas Ramge: Augmented Intelligence. Wie wir mit Daten und KI besser entscheiden
Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft
Ute Altanis-Protzer
Dr. med., M.A.
Ärztin, Medizinethikerin, Literaturwissenschaftlerin und Autorin