Natürliches und Künstliches

Der Orang Utan, Phytotherapie und Selbstmedikation

Die Nachricht ging um die Welt: Rakus, ein Orang-Utan in Sumatra, behandelte seine Wunde erfolgreich mit  der Pflanze Akar Kuning, die bekannt für ihre antientzündlichen Wirkungen ist und in der traditionellen asiatischen Medizin zur Wundheilung und gegen Schmerzen und Fieber eingesetzt wird. Zum ersten Mal wurde diese Selbstmedikation direkt beobachtet und die Wundheilung fotografisch dokumentiert. Die Forscher berichteten, dass die offensichtlich schwere Wunde innerhalb von Tagen komplett verheilte. Phytotherapie als Selbstmedikation bei einem Affen!

Zoopharmakognosie – Tiere wenden Naturheilkunde an

Dass Tiere Selbstmedikation betreiben ist nichts Neues. Schimpansen behandeln mit Pflanzen Wurmbefall und Durchfälle, auch Bonobos und Gorillas setzen Heilpflanzen medizinisch ein. Vögel legen ihre Nestern mit Pflanzen aus, die gegen Insekten schützen und die auch von Menschen beispielsweise gegen Juckreiz benutzt werden. Untersuchung der eingesetzten Pflanzen ergab wirksame chemische Substanzen. Interessant im Fall des Orang-Utans ist auch die Vorgehensweise: Der Affe zerkaute die Blätter, aber schluckte sie nicht; er stellte sozusagen eine Lotion her, die er dann auftrug, wobei er auch noch den Bezirk mit den  Blättern zudeckte. Die Forscher beobachteten auch, dass der Affe ihn dieser Zeit seine Ruhezeiten stark verlängerte.

Uraltes Wissen

Berichte über Wundbehandlung beim Menschen gibt es seit mehr als viertausend Jahren. Wandmalereien und  Aufzeichnungen aus dem alten Ägypten beschreiben Behandlungen mit Leintüchern (die man für die Mumien herstellte). Diese Tücher wurden in Honig getränkt und aufgelegt. Noch viel älter aber scheinen Kenntnisse zu sein, die offensichtlich bei Menschenaffen existieren und bei diesen ebenso wie bei den frühesten Menschen genutzt wurden. Zur Erinnerung: Große Menschenaffen haben etwa 97,5 % ihres Genoms  gemeinsam mit uns.

Heilpflanzen anwenden

Wichtig ist auch der Prozess der Herstellung und Anwendung.  Die beobachtenden Biologen teilten mit, dass die Zubereitung durch Kauen der Blätter etwa 30 Minuten und die Behandlung der Wunde dann weitere 7 Minuten dauerte. Sie schreiben, dass diese spezielle Pflanze sonst von den Affen nicht oder kaum konsumiert würde. All das spricht dafür, dass es sich nicht um eine zufällige Anwendung  handelte, sondern dass bewusst ein Heilmittel eingesetzt wurde. Angemerkt werden sollte auch, dass Rakus sein Pflanzenerzeugnis nur auf die Wunde verteilte und nirgendwo sonst am Körper anwendete.

Woher kommt die Kenntnis

Woher wusste der Orang- Utan, welche Pflanze zum Heilen der Wunde eingesetzt werden kann und wie sie zubereitet werden musste? Die verschiedenen Theorien gelten für Affen genauso wie für Menschen:

  • Es gibt ein angelegtes Wissen, welches genetisch und epigenetisch weitergegeben und einfach schon bei der Geburt vorhanden ist.
  • Das Wissen wird  erworben durch eigene gute und schlechte Erfahrungen sowie Zufallsereignisse.
  • Das Wissen wird sozial erworben, indem man durch Andere unterrichtet wird und lernt.

Da erkennen wir uns durchaus wieder: Wir spüren brennende Schmerzen bei Berührung von Brennnesseln und vermeiden danach direkten Haut-Kontakt mit dieser Pflanze; wir machen die Erfahrung, dass wir bestimmte Lebensmittel nicht vertragen und meiden sie dann.  – In Schule und Studium wird uns Wissen weitergegeben. – Alexander Fleming entdeckte vor fast hundert Jahren zufällig, dass an einer Stelle seines Versuchspräparates, wo sich Schimmelpilze ausbreiteten, keine Bakterien wuchsen. Diese Zufallsentdeckung führte zum Antibiotikum Penicillin.

Genetik und Epigenetik

Längst ist bekannt, dass wir mehr als die Summe unserer Gene sind. Die Epigenetik als Teilgebiet der Biologie beschäftigt sich mit genetischen Veränderungen, die unter Einfluss von Lebensumständen stattfinden und an die nächste Generation  weitergegeben werden können. So weisen zum Beispiel eineiige Zwillinge, die bei Geburt völlig identisch sind, nach verschiedenden Lebenwegen später völlig andere Merkmale auf. Da diese an die Nachkommen weitergegeben werden können, können in der nächsten Generation mit höherer Wahrscheinlichkeit beispielsweise bestimmte Krankheiten ausbrechen. Neueste Studien zeigen:  “wer sich längere Zeit ungesund ernährt, verändert womöglich dauerhaft wichtige Schaltstellen in seinem Erbgut. Eltern steigern dadurch nicht nur das eigene Risiko auf Stoffwechselerkrankungen, sondern auch das ihrer künftigen Nachkommen”.

Synthetische Stoffe, neue Medizin

Erst im 19.Jahrhundert begann die industrielle Herstellung wirksamer Substanzen aus Pflanzen, wie  Morphin, Chinin, Cocain, Atropin. In dieser Zeit lag die Lebenserwartung unter 50 Jahren, für fast die Hälfte der Todesfälle waren  Infektionskrankheiten verantwortlich; Penicillin und Insulin standen noch nicht zur Verfügung. Zu Beginn des ersten Weltkrieges gab es etwa 300 Wirksubstanzen, heute sind es mit steigender Tendenz etwa 3000.  Das erste völlig synthetische Arzneimittel war die Salicylsäure, aus der das bekannte Aspirin entstand.

Eine Erfolgsgeschichte der neuen Medizin also, allerdings gab es gleichzeitig  Bewegungen, die für die sogenannten “natürlichen Heilmethoden” warben wie beispielsweise S. Kneipp.

Phytotherapie, die Pflanzenheilkunde

Über die Hälfte aller Medikamente geht auf aus der Natur gewonnene Stoffe zurück. Hippokrates verordnete Granatapfelsaft gegen Fieber, in Alt- Ägypten wurde Hanf zur Schmerzlinderung eingesetzt, der Ebers-Papyrus um 3500 v.u.Z. listet Hunderte von Rezepten zur Heilmittelzubereitung auf. Im  Europa des Mittelalters blühte die Klostermedizin; die  berühmteste Vertreterin Hildegard von Bingen beschrieb im 12. Jahrhundert  in  ihrem Buch “Physica” etwa 2000 Heilpflanzen und ihre  Anwendung; in Tansania benutzen Menschen und Tiere seit Jahrhunderten die gleichen Heilpflanzen gegen Fieber und Durchfall. Heute ist die Phytotherapie ein Teil der Naturheilkunde. Patienten erwarten von Phytotherapie  vor allem auch geringere Nebenwirkungen als bei der ‘Chemiekeule’, vergessen dabei allerdings zu oft, dass mit geringeren Nebenwirkungen auch geringere Wirkung verbunden ist,

Selbstmedikation ja oder nein?

Es sind  viele Gründe für Selbstmedikation denkbar. Ja, auch knappe Arzttermine zum Beispiel, ein fehlendes Grundvertrauen in die ‘Schul’-Medizin, Angst vor Nebenwirkungen der Medikamente, der Glaube, dass etwas ‘gut tut’, wenn es ‘natürlich’ ist und wenn man es vorsorgemäßig einnimmt. Ein wichtiger Punkt ist die medizinische Kommunikation, die sich zwar in letzter Zeit etwas verbessert hat, aber offensichtlich nicht genug: so bleibt es leichter, den Heil-Versprechen von Firmen, die nicht rezeptpflichtige Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmitt vermarkten, blind zu glauben.

Menschen glauben weiterhin  gern, dass  Heilmittel aus Pflanzen weniger schädlich seien; dabei finden sich die stärksten Gifte in Pflanzen. Dass Schmerzmittel beispielsweise zu schweren Leberschäden führen können, wissen manche inzwischen und überschreiten bei Selbstmediktion wenigstens nicht die angegebene Dosis; dass das aber auch bei ‘harmlosen Nahrungsergänzungsmitteln oder Teezubereitungen gilt, haben sich die Wenigsten klargemacht: hier scheint man sich oft auf  “Mehr ist mehr” zu berufen, sonst wären beispielsweise die steigenden schweren Nebenwirkungsfälle  bei  Kurkuma – haltigen Präparaten nicht erklärlich.

Fazit

Ja, es gibt heilende Pflanzen und auch ein uraltes Wissen über die Anwendung und Wirkung. Bei der Selbstmedikation allerdings sollten wir sehr vorsichtig sein, ob es sich um Vitamine, Nahrungsergänzungsmittel oder einfach Teezubereitungen handelt. Vor allem aber sollten wir  beachten, dass alle freiwillig und ohne ärztliches  Rezept eingenommenen Mittel den behandelnden Ärzten mitgeteilt werden müssen! Nur dann können pflanzliche Heilmittel eine vielleicht vorhandene heilende Wirkung entfalten, ohne zu unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen mit anderen  verschriebenen Medikamenten zu führen oder letztlich toxisch für den Menschen zu werden.

 

Literaturtipps

Landgraf Christine: Die heilende Kraft der Natur

Leven Karl Heinz . Geschichte der Medizin: von der Antike bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

 

Nach Alabama: sind Embryonen Kinder?

Im Februar 2024 ging das Urteil aus Alabama/USA um die Welt: ein Embryo sei ein Kind, ein kryokonservierter Embryo ein Mensch mit Persönlichkeitsrechten. Embryonen seien unabhängig von ihrer Lokalisation eben Kinder. Daraus  ergaben sich neue juristische Fragestellungen und vor allem eine völlige Verunsicherung von Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch: werden Patient:innen und Ärzt:innen  jetzt strafrechtlich verfolgt? Als erste Konsequenz jedenfalls stellte die Universität Alabama ihr Programm für Künstlichen Befruchtung ein, stoppte die in-vitro-Befruchtung.

Was ist eigentlich ein Embryo?

Jeder scheint es irgendwie zu wissen, dennoch sieht man bei der Durchforstung von Medienartikeln, dass hier wieder ein Begriff in vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt wird. Beginnen wir mit der Biologie: nach der Befruchtung (Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle) entsteht eine sich teilende Zellansammlung, der Embryo. Hier befinden sich die sogenannten Stammzellen, das sind totipotene (alleskönnende) Zellen, aus der dann differenzierte Zellen des  Organismus ( also z.B. Leberzellen, Hirnzellen, Muskelzellen) entstehen können. Diese sogenannte Blastocyste erreicht beim natürlichen Befruchtungsvorgang  die menschlichen Gebärmutter etwa am 5. Entwicklungstag.

Nidation  (Einnistung) – noch viel unbekannt

Die Gebärmutter muss vorher schon durch die Hormone entsprechend vorbereitet worden sein. Dieser Teil muss bei einer künstlichen Befruchtung durch Hormogabe nachgeahmt werden und der Transfer der im Reagenzglas erzeugten Embryonen findet dann um diesen 5. Tag statt. Es folgt die Einnistung (Nidation) des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut, ein sehr komplexer Vorgang, von dem wir auch heute nicht genau alle Bedingungen und Schritte  kennen. Nach der Einnistung wird der Embryo zum  Fötus.

Embryoide –  ein neues Embryomodell?

Selbst diese Voraussetzungen stimmen heute nicht mehr so ganz: schon länger findet Forschung an künstlich aus Stammzellen erzeugten Embryomodellen statt, den Embryoiden , die bestimmte Entwicklungsstadien erreichen können und im Tierversuch auch bereits in eine Gebärmutter implantiert wurden. Hier würde also nicht einmal die Definition mehr stimmen, dass ein Embryo aus der Verschmelzung von Eizelle und Samenzellen hervorgeht!

Embryo: vor Einnistung – Fötus: nach Einnistung.

Bleiben wir aber bei der alten Definition. Die Probleme liegen auch hier viel tiefer. Zunächst zum Juristischen. In Deutschland ist der juristische Status eines Embryos bis zur Einnistung der eines Nondum conceptus („noch nicht empfangen“); der des Fötus nach der Einnistung der eines Nasciturus („wird geboren werden“). Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass ab der Einnistung der Nasciturus ein einmaliges unverwechselbares Wesen ist, dass sich als Mensch entwickelt und somit Menschenwürde trägt. Nach unserer Rechtsdefinition trifft also die Alabama-Definition “Embryo ist ein Kind” nicht zu.

So weit so einfach. Eine Zelle ist kein Mensch, eine Zellansammlung auch nicht. Ein Embryo ist somit kein werdender Mensch, sondern er kann unter bestimmten Bedingungen zu einem solchen werden. Es wäre schon viel geholfen, wenn die beiden Begriffe Embryo und Fötus nicht ständig verwechselt oder als gleichbedeutend verwendet würden.

Embryo: kein Kind, keine Sache

Allerdings ist ein Embryo auch nicht nur einfach eine Sache, mit der man beliebig verfahren kann. Das Embryonenschutzgesetz in Deutschland sagt: Als ‘Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag’.

Embryonenschutzgesetz

Zwar wird das Embryonenschutzgesetz gemeinsam mit dem Stammzellengesetz heute wieder als veraltet und zu restriktiv diskutiert, da es Forschung an humanen frühen Embryonen, mit der die Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Erkrankungen verbunden ist, stark einschränkt; man sieht aber in dieser Definition etwas ganz Wesentliches: wenn (und nur wenn) erforderliche weitere Voraussetzungen vorliegen, hat ein Embryo die Möglichkeit, sich zu einem Individuum zu entwickeln. Die beste Definition für den frühen humanen Embryo, ob nun natürlich oder im Reagenzglas erzeugt, wäre also: Zellverband, der sich unter bestimmten Voraussetzungen zu einem menschlichen Wesen entwickeln kann. Ein Embryo ist somit kein Mensch, er kann unter bestimmten Bedingungen aber zu einem solchen werden.

Alte Philosophie, neue Probleme

Dieser Gedanke der Potentialität geht schon auf Aristoteles zurück: im Embryo selbst (als Träger des menschlichen Erbgutes) ist schon die Möglichkeit enthalten, ein Mensch zu werden; ob er sich aber dazu entwickelt, würde letztlich auch etwas AKZIDENTELLES ( etwas Zusätzliches, aber auch Zufälliges, nicht Einzuplanendes) voraussetzen, und erst dann wäre der ontologische Status, sein SEIN als Mensch, gegeben. Aber es gibt viele verschiedene Ansätze in der Philosophie: ein anderer geht aus von der Individualwürde und spricht dem Embryo nicht nur humanen, sondern auch personalen Status zu. Hier würde der Embryo nicht zum Menschen, er wäre bereits einer; in diesem Fall müsste man vor ihm aber nicht nur eine höhere Achtung als “Nicht -Sache” haben, sondern ihm gleich Menschenwürde zuschreiben, was im Endeffekt heißt, dass er die gleichen Grundrechte besitzen würde ( z.B. Lebensschutz). Mehr zu allen philosophischen Ansätzen im weiterhin sehr lesenswerten Artikel von 2009  “Die Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos” von Jan P. Beckmann.

Die “Pille danach”

Wer genau hinschaut, müsste sich bei dieser Diskussion zwar nicht unbedingt mit der künstlichen Befruchtung beschäftigen, nicht mit den komplexen wissenschaftlichen Problematik von heutigen und zukünftigen Forschungsthemen ( wie z.B. der künstlichen Gebärmutter), sondern beispielsweise nur mit der inzwischen alltäglich benutzten “Pille danach”; diese ist als Notfall- Verhütungsmittel erhältlich, hat aber auch einen immer noch nicht ganz geklärten Einfluss auf die Nidation nach bereits stattgefundener Befruchtung. Insofern wäre sie kein Verhütungsmittel, sondern auch ein Früh-Abtreibungsmittel. Die gleiche Problematik besteht bei allen Mitteln, die die Nidation des schon entstandenen Embryos verhindern, wie Spiralen und andere mechanische Mittel  mit und ohne Hormone durch ihre Einwirkung auf die Gebämutterschleimhaut. Wer das “Personsein” des Embryos zugrundelegt, wie es jetzt das Alabama-Gesetz wieder tut,  müsste konsequenterweise also alle diesbezüglichen Mittel ebenfalls ablehnen.

Fazit

Die neue Rechtslage in Alabama  betrifft uns nicht, aber sie geht uns viel an.  Wir könnten, statt nur reflexartig “rückständige” Gesetze und politische Tendenzen zu verurteilen, uns einmal wieder mehr mit den Begriffen beschäftigen und überhaupt mehr darüber nachdenken, was wir persönlich und als Gesellschaft anstreben und  anerkennen wollen. Die Wichtigkeit der Definitionen ist weiterhin nicht zu unterschätzen, denn diese bestimmen letztlich unsere Gesetze ebenso wie unser Zusammenleben.

 

Literaturtipps

Aristoteles: Die Kategorien

Jan P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der Modernen Medizin

Eizellspende – Aufhebung des Verbots?

Zwei Länder verbieten die Eizellspende in der EU: Deutschland und Luxemburg. In Deutschland wird  gerade wieder nachgedacht über eine Aufhebung des Verbots. Wie oft bei schwierigen Themen kann man gleich zu Anfang feststellen: es wird nicht die eine, gute und alles umgreifende Lösung geben. Aber die Debatte ist wichtig, und am Ende muss eine für alle akzeptable und rechtssichere Lösung stehen. Was also spricht für, was gegen das Verbot? Eizellspende – Aufhebung des Verbots?

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Pflanzen und KI. Rangordnung und Neujahrswunsch

Im letzten Monat des  Jahres 2023 mit seinen großen Umwälzungen und täglichen Schreckensnachrichten hatte ich mich auf der Suche nach etwas Anderem wieder einmal mit Pflanzen beschäftigt. Natürlich nur, um am Ende festzustellen, dass es kein von Allem losgelöstes Thema gibt. Auch dieses ist komplex, existenziell und sogar hochpolitisch. Eine gewisse Aktualität bekamen Pflanzen mit den Weihnachtsbäumen. Millionen gefällter Bäume in einer Zeit von sich zuspitzender Klimakatastrophe? Beim näheren Hinschauen kommt man auf viele Pros und Contras. Zu den neuen und überraschenden Erkenntnissen gehört dann, dass die Ökobilanz bei den künstlichen Bäumen meist sogar schlechter ist als bei den natürlichen, wenn diese regionale Bäume aus biologischen Baumschulen sind.

Aber hier geht es mir weder um Weihnachtsbäume noch um diesen Teil des Themas Pflanzen – ihre Nutzung durch uns – sondern um etwas Anderes: unsere selbstgegebene Hierarchie, die gefühlte Rangordnung  von ganz oben nach ganz unten.  Menschen, Tiere, Pflanzen. Die Dominanz des Menschen. Und das hochaktuelle Infragestellen dieser  Rangordnung  durch die Künstliche Intelligenz, genauer, die AGI oder gar ASI.

Der Mensch an der Spitze der Hierarchie?

Der Mensch hält sich ja für die Krone der Schöpfung, aber das ist er nur in dem Sinne, dass er die meisten Veränderungen in unserer Welt bewirkt hat. Etwa 9000 Jahre vor unserer Zeitrechung begann das Holozän – der Name heißt  “alles neu” –  in welchem es durch Klimawandel umwälzende Veränderungen im Tier- und Pflanzbereich gab; in den letzten Jahrhunderten griff der Mensch immer mehr ein, das Anthropozän ( “neu durch Menschen” ) wird ab dem 17. Jahrhundert oder auch erst im 20. gesehen. Eingreifend also wirkt der Mensch, alles beherrschend, aber ansonsten ist diese Hierarchie gar nicht so gut begründet:  viele Tiere sehen, hören, riechen besser als wir, sie sind muskelstärker und laufen schneller; und Pflanzen haben uns das Wichtigste überhaupt voraus: sie können meist ihre  Nahrung selbst herstellen, während wir alles zuführen müssen. Kein Grund also eigentlich für die Dominanz eines der Wesen in der Hierarchie, da keins Alles kann.

Pflanzen am Ende der Rangordnung.

Völlig unberechtigterweise stehen die Pflanzen in unserer selbstgeschaffenen Rangordnung ganz unten, trotz ihrer enormen Bedeutung für uns. Erst langsam mehren sich die Stimmen, die nicht nur ihre Bedeutung in Bezug auf  Vernutzung  wie bei Ernährung und Landwirtschaft hervorheben, sondern sich auch allgemeiner nach dem Status fragen, den wir den Pflanzen zuordnen. Innerhalb des großen Gebiets der Ethik entwickelt sich nach der Tierethik auch eine Pflanzenethik. Die Erkenntnis,  wieviel wir auch von Pflanzen lernen könnten, kommt schleppend. Zu  beobachten sind da beispielsweise die Überlebenstechniken Vernetzung und Kommunikation sowie ein perfektes Team Work!  Unterirdische Pilzgeflechte von Pflanzen, die dem Austausch von Nährstoffen dienen, wurden schon mit neuronalen Netzwerken verglichen. Symbiosen führen dazu, dass alte Bäume schwache kranke und junge mitversorgen und dass überlebenswichtige Stoffe als Vorrat gespeichert werden können.

KI und die Rangordung

Der britische Mathematiker Irving John Good hat 1965 in Oxford  eine Arbeit mit dem Titel “Spekulationen über die ersten superintelligente Maschinen” veröffentlicht,  in der steht, dass die erste superintelligente Maschine die letzte Errungenschaft des Menschen sein wird, weil sie aufgrund eben dieser Superintelligenz selbst neue bessere Maschinen bauen würde. Spekulation war der richtige Ausdruck, denn das war logisch, aber Science Fiction. Ein halbes Jahrhundert später sprechen wir intensiv und immer ernsthafter über AGI, die ‘Allgemeine Künstliche Intelligenz’ und sogar über ASI, die sich völlig selbständig machende Superintelligenz. Genauer: wir als Nicht-Experten  und Leser sprechen immer intensiver und die Wissenschaftler immer ernsthafter über dieses Thema. Weltweit geht es um die eine Frage, die alle umtreibt: nachdem wir  bisher KI als Werkzeug benutzten,  (ANI oder Artificial Narrow Intelligence) – welchen Einfluss können wir darauf haben, dass eine entstehende AGI, also eine KI mit dem Menschen ähnlichen kognitiven Fähigkeiten,  oder gar eine ASI, die uns nicht in Teilen, sondern in Allem überlegen ist, für uns positive Auswirkungen hat?

Neujahrswunsch 2024

Um uns zwischen Begeisterung und Ohnmacht zu bewegen, vor allem aber um uns nicht in einem Dauerzustand  gefühlter Bedrohung  durch eine möglicherweise bösartige Superintelligenz zu fühlen, brauchen wir auf jeden Fall mehr Verständnis und Beteiligung. Gegen Ängste hilft Informiertsein. Es erscheinen lohnende Arbeiten über die Ethik der Künstlichen Intelligenz. Da oft nicht einmal die Begriffe klar sind, werden Versuche von Klassifizierungen unternommen, wie kürzlich von Google Deep Mind.

Und was hat das alles mit den Pflanzen zu tun?

Es hat sehr viel mit unserer genannten Hierarchie zu tun, die im Augenblick vielleicht noch nicht unmittelbar bedroht, aber jedenfalls durch die AGI  und das Konzept der ASI in Frage  gestellt wird. Wäre dieser Punkt nicht eine Gelegenheit für uns, sie radikal zu hinterfragen? Diese Rangordnung im Sinne von Hackordnung endlich abzuschaffen und Symbiosen von Menschen, Tieren und Pflanzen als das Wesentliche zu begreifen? Zu lernen also grenzübergreifend voneinander und von schon vorhandenen Organisationsformen in unserer Tier-  und Pflanzenwelt? Das wäre dann ein Neujahrswunsch! Und die Pflänzchen, die sich im  Bild oben aus den Steinen ihren Weg bahnen, wären ein Symbol für Hoffnung.

 

Danke für Bild an Mabel Amber auf Pixabay

Literaturtipps

Angela Kallhoff: Prinzipien der Pflanzenethik

Stefan Mancuso: Die Pflanzen und ihre Rechte

Stefan Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen

Überlebenskünstler

 

Können Roboter den Pflegenotstand beheben?

Die Situation: der demografische Wandel – Zunahme älterer bei Abnahme jüngerer Menschen –  ist längst da. Zusätzlich kommt in wenigen  Jahren die Generation der ‘Babyboomer’ ins Rentenalter. Somit wird die Anzahl pflegebedürftiger Menschen nochmals stark ansteigen.   Pflegenotstand ist jetzt schon Fakt, besonders dramatisch der Mangel an Pflegefachpersonen. Zusätzlich gibt es immer mehr Ausfälle bei den jetzt  Pflegenden, die durch dauernde Überforderung  in Schichtdiensten eher erkranken oder ganz ausfallen oder kündigen. So ist der Personalschlüssel Pflege in Deutschland im europäischen Vergleich schlecht. Was liegt also näher, als endlich Roboter zur Lösung einzusetzen? Die Frage ist: Können Roboter den Pflegenotstand beheben?

Pflegerobotik update

Unter diesem Titel hatte ich im März 2022 zusammengefasst, was es neu gab. Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen. Gibt es einen Durchbruch? Um es gleich zu sagen: nein, und das trotz der immensen technischen Fortschritte. Kurz zusammengefasst: es stehen uns bereits zur Verfügung:

  • Serviceroboter mit immer mehr Möglichkeiten:  Material wie Wäsche oder Verbandsmaterial in Kliniken zu den verschiedenen Stationen transportieren, inzwischen selbständig Aufzug fahren, be- und entladen. Was hier mit der Pflege zu tun hat, ist die Zeitersparnis. Wichtig, aber eben nur das.
  • Näher an Patient:innen sind Assistenzrobotsysteme wie ferngesteuerte immer flexiblere und sensiblere technische Arme, die beispielsweise Verbandswechsel bei großflächigen Wunden durchführen können, Lagerungen in Isolierzimmern wegen Infektionsgefahr und Vieles mehr. Diese arbeiten aber nicht selbständig, sondern als Werkzeug für Pflegekräfte. Allerdings können Assistenzroboter auch einfache praktische Hilfen bereitstellen; sie können beispielsweise Getränke bringen, hingefallene Gegenstände aufheben, Erinnerungsfunktionen übernehmen und Stürze melden. Assistenzroboter wie Pepper spielen auch eine Rolle nur bei der Zeitersparnis, da sie Patient:innen eine Zeitlang beschäftigen können, ob durch Vorlesen und Spiele oder durch Gymnastikprogramme.
  • Sozioemotionale Roboter wie die Robbe Paro (in den USA als Medizinprodukt zertifiziert und von den Kassen erstattet), die wie eine Tiertherapie dort eingesetzt werden können, wo aus hygienischen Gründen Tiere nicht gestattet sind. Menschliche soziale Umarmungen und Berührungen können aber auch durch immer menschenähnlichere humanoide Roboter nur dargestellt, nicht ersetzt werden.

Und was gibt es immer noch nicht ? Eine Kombination aus allem. Und schon gar nicht gibt es ein technisches System, welches eine Pflegefachkraft ersetzen könnte. Die – je nach Standpunkt und Interessen – Hoffnung oder Angst, dass Roboter Fachpflegekräfte ersetzen können, scheint immer unbegründeter.

Anforderungen an Pflegeroboter

Was müsste es denn geben, um Menschen in der Situation der Pflege, welche nicht Ersatz von einzelnen Funktionen, sondern Sorgearbeit ist, ersetzen zu können? Die Antwort wäre: Roboter mit sehr umfangreichen, wenn nicht allen menschlichen Eigenschaften, körperlicher und geistiger Interaktionsfähigkeit, sehr komplexem und selbständigem Verhalten (was der Verantwortung einer Person entspricht, auch mit allen rechtlichen Konsequenzen). Spätestens an dieser Stelle wird aber wohl deutlich, dass es um Fragen geht, die nicht nur die Grenze des Machbaren, sondern auch des Wünschbaren berühren! So formulierte Peter Tackenberg vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe 2019 lapidar: “Technik, die das menschliche Beurteilungsvermögen durch künstliche Intelligenz ersetzt statt ergänzt, wird in der Pflege nicht benötigt.”

Pflegeroboter und Pflegenotstand heute

Was sind die Fakten? Im Augenblick muss der Einsatz sozialer Robotik von Pflegepersonen begleitet werden; es ist nicht nur die Technik, die Einführung verlangt, weil einmal die Nutzung robotischer Systeme technische Kenntnisse erfordert und zum Anderen diese Systeme gewartet werden müssen. Vor allem benötigen Menschen Zeit, um sich an Interaktionen mit Robotern zu gewöhnen; das gilt ganz besonders bei Patient:innen mit kognitiven  Einschränkungen. Dadurch entsteht aber mehr, nicht weniger Arbeit für Pflegepersonen, also genau auf dem Gebiet, wo (Altenpflege!) Roboter von der Werbung als die Lösung hingestellt werden. Ganz abgesehen davon, dass die Maschinenethik weiterhin ausgebaut werden muss, dass der Einsatz selbstlernender Systeme erst am Anfang steht, dass  Fragen zur Verantwortung und Haftung weiter ungeklärt und  gesetzgeberische Maßnahmen sowie rechtliche Vorgaben noch lückenhaft sind.

Pflegerobotik in der Entwicklung

Neueren Datums ist die Erkenntnis, die wegweisend sein könnte: dass die Probleme schon bei der Entwicklung gesehen werden müssen. Entwickler müssten zunächst die Komplexität pflegerischer Maßnahmen verstehen, abgesehen von allem, was mit den ethischen und sozialen Fragestellungen verbunden ist. Das ist nur durch enge Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften erreichbar. Am Ende dieses Prozesses müsste ein Roboter stehen, bei dem eine Pflegefachkraft zusätzlich Aufgabenstellung und Veränderung für ihre einzelnen Patient:innen individuell  vornehmen kann. Es klingt so einfach und ist am schwierigsten: Roboter, die in der Interaktionsarbeit  (Arbeit an und mit Menschen) einen Menschen ersetzen sollen, müssen sich an die Anforderungen des Einzelfalls und die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen anpassen können und sie müssen in dieser Interaktion mit den beteiligten Menschen weiterlernen.

Wie geht es weiter?

Immerhin, es gibt Stimmen, die sagen: “[…] die Frage ist nicht, ob, sondern wie, wo und letztlich wann intelligente und autonome Roboter in der Altenpflege Einsatz finden werden”. Wenn man die Frage etwas erweitert auf ‘Seniorenbetreuung’, zum Beispiel auf alleinlebende ältere Menschen, die möglichst lange selbständig zu Hause bleiben wollen, ist das wohl richtig. Hier gibt es inzwischen Pilotprojekte. Auch Kombinationen aus Assistenz- und Unterhaltungsrobotern  wie TEMI werden in Praxisprojekten getestet,  kommen allerdings  bisher immer wieder an ihre Grenze. Ansonsten ist der Begriff Pflegeroboter, unter dem verstanden wird, dass eine Maschine Pflegekräfte ersetzt, auch heute nur irreführend. Wer Werbung sieht, glaubt, ein Roboter könne sich selbständig um Körperpflege, Ernährung und Medikamentenverabreichung kümmern und gleichzeitig Gesellschafter oder gar Ansprechpartner sein, und das ist nicht korrekt. Es trifft heute nicht zu und wird flächendeckend als Lösung unseres Pflegenotstandes zumindest sehr lange nicht zutreffen. Auf der anderen Seite steht das Problem, dass Serviceroboter von Pflegekräften zur Arbeitserleichterung audrücklich gewünscht werden, aber in der Altenpflege kaum zum Einsatz kommen. Grund? Die Kosten. Oder: Verschiebung des Problems auf die höchste strukturelle Ebene: politischer Wille. So ist selbst hier, wo es bereits möglich wäre, kaum ein Fortschritt zu verzeichnen.

Fazit:

  • Im Augenblick ist im Pflegebereich jeder Roboter noch selbst zu stark  ‘pflegebedürftig’; er braucht die Menschen mehr als die Menschen ihn.
  • Die in der Werbung oft dargestellte Kombination aus Serviceroboter und sozioemotionalem Roboter ist weder erreicht noch im Augenblick vostellbar.
  • Der Technikfortschritt ist deutlich. Er bedeutet aber letztlich, dass nicht weniger, sondern mehr und vor allem besonders qualifizierte Pflegekräfte mit differenzierter Ausbildung erforderlich sind.
  • Die Zukunft der Pflegerobotik liegt im individuellen Anpassen an die Bedürfnisse der einzelnen Menschen. Dazu wäre nicht nur viel mehr interdisziplinäre Forschung nötig, sondern vor allem praktische Zusammenarbeit von Entwicklern und Pflegefachkräften lange vor dem Einsatz eines Roboters. Die Einbindung der Pflege ist bereits in der ersten Entwicklungsphase dringend erforderlich.

Nicht der Roboter pflegt, sondern die Pflegekraft

Ich glaube, das Beitragsbild symbolisiert den jetzigen Stand sehr schön: die menschliche Hand und die Roboterhand versuchen, sich zu berühren, aber die Lücke zwischen beiden ist nicht zu schließen. Bei der Annäherung der zwei Welten ist ein Händedruck noch nicht in Sicht. So bleibt auch 2023 nur die Feststellung: nicht der Roboter pflegt, sondern die Pflegekraft. Oder, wie es der Deutsche Ethikrat
schon 2020 formulierte: es gibt einen möglichen Nutzen von Robotik im Pflegebereich, aber der liegt nicht in der Beseitigung von Personalengpässen im Einzelnen und des Pflegenotstandes im Ganzen, sondern in der Unterstützung und Förderung guter Pflege. Ferner kann und darf ein Roboter nicht im Sinne von Effizienzmaximierung  als Ersatz zwischenmenschlicher Beziehung betrachtet und niemals gegen den Willen von Gepflegten und Pflegenden eingesetzt werden; schließlich ist nötig, dass alle Betroffenen in die Entwicklung der Technik einbezogen werden.

 

Dank an Tara Winstead für Foto auf pexels 

 

Literaturtipps

OliverBendel: Pflegeroboter

Ludwig Binder: Pflegeroboter als Zukunft im Gesundheitswesen

Ronald Deckert: Digitalisierung in der Altenpflege

Katrin Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik

Thomas Rampe: Mensch und Maschine

Hergesell Jannis et al (Hrsg): Genese und Folgen der Pflegerobotik

Oliver Korn ( Hrsg) : Social Robots

Nicole Kaczmar:  Pflegeroboter in der Altenpflege