Nach Alabama: sind Embryonen Kinder?

Im Februar 2024 ging das Urteil aus Alabama/USA um die Welt: ein Embryo sei ein Kind, ein kryokonservierter Embryo ein Mensch mit Persönlichkeitsrechten. Embryonen seien unabhängig von ihrer Lokalisation eben Kinder. Daraus  ergaben sich neue juristische Fragestellungen und vor allem eine völlige Verunsicherung von Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch: werden Patient:innen und Ärzt:innen  jetzt strafrechtlich verfolgt? Als erste Konsequenz jedenfalls stellte die Universität Alabama ihr Programm für Künstlichen Befruchtung ein, stoppte die in-vitro-Befruchtung.

Was ist eigentlich ein Embryo?

Jeder scheint es irgendwie zu wissen, dennoch sieht man bei der Durchforstung von Medienartikeln, dass hier wieder ein Begriff in vielen verschiedenen Bedeutungen benutzt wird. Beginnen wir mit der Biologie: nach der Befruchtung (Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle) entsteht eine sich teilende Zellansammlung, der Embryo. Hier befinden sich die sogenannten Stammzellen, das sind totipotene (alleskönnende) Zellen, aus der dann differenzierte Zellen des  Organismus ( also z.B. Leberzellen, Hirnzellen, Muskelzellen) entstehen können. Diese sogenannte Blastocyste erreicht beim natürlichen Befruchtungsvorgang  die menschlichen Gebärmutter etwa am 5. Entwicklungstag.

Nidation  (Einnistung) – noch viel unbekannt

Die Gebärmutter muss vorher schon durch die Hormone entsprechend vorbereitet worden sein. Dieser Teil muss bei einer künstlichen Befruchtung durch Hormogabe nachgeahmt werden und der Transfer der im Reagenzglas erzeugten Embryonen findet dann um diesen 5. Tag statt. Es folgt die Einnistung (Nidation) des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut, ein sehr komplexer Vorgang, von dem wir auch heute nicht genau alle Bedingungen und Schritte  kennen. Nach der Einnistung wird der Embryo zum  Fötus.

Embryoide –  ein neues Embryomodell?

Selbst diese Voraussetzungen stimmen heute nicht mehr so ganz: schon länger findet Forschung an künstlich aus Stammzellen erzeugten Embryomodellen statt, den Embryoiden , die bestimmte Entwicklungsstadien erreichen können und im Tierversuch auch bereits in eine Gebärmutter implantiert wurden. Hier würde also nicht einmal die Definition mehr stimmen, dass ein Embryo aus der Verschmelzung von Eizelle und Samenzellen hervorgeht!

Embryo: vor Einnistung – Fötus: nach Einnistung.

Bleiben wir aber bei der alten Definition. Die Probleme liegen auch hier viel tiefer. Zunächst zum Juristischen. In Deutschland ist der juristische Status eines Embryos bis zur Einnistung der eines Nondum conceptus („noch nicht empfangen“); der des Fötus nach der Einnistung der eines Nasciturus („wird geboren werden“). Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass ab der Einnistung der Nasciturus ein einmaliges unverwechselbares Wesen ist, dass sich als Mensch entwickelt und somit Menschenwürde trägt. Nach unserer Rechtsdefinition trifft also die Alabama-Definition “Embryo ist ein Kind” nicht zu.

So weit so einfach. Eine Zelle ist kein Mensch, eine Zellansammlung auch nicht. Ein Embryo ist somit kein werdender Mensch, sondern er kann unter bestimmten Bedingungen zu einem solchen werden. Es wäre schon viel geholfen, wenn die beiden Begriffe Embryo und Fötus nicht ständig verwechselt oder als gleichbedeutend verwendet würden.

Embryo: kein Kind, keine Sache

Allerdings ist ein Embryo auch nicht nur einfach eine Sache, mit der man beliebig verfahren kann. Das Embryonenschutzgesetz in Deutschland sagt: Als ‘Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag’.

Embryonenschutzgesetz

Zwar wird das Embryonenschutzgesetz gemeinsam mit dem Stammzellengesetz heute wieder als veraltet und zu restriktiv diskutiert, da es Forschung an humanen frühen Embryonen, mit der die Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Erkrankungen verbunden ist, stark einschränkt; man sieht aber in dieser Definition etwas ganz Wesentliches: wenn (und nur wenn) erforderliche weitere Voraussetzungen vorliegen, hat ein Embryo die Möglichkeit, sich zu einem Individuum zu entwickeln. Die beste Definition für den frühen humanen Embryo, ob nun natürlich oder im Reagenzglas erzeugt, wäre also: Zellverband, der sich unter bestimmten Voraussetzungen zu einem menschlichen Wesen entwickeln kann. Ein Embryo ist somit kein Mensch, er kann unter bestimmten Bedingungen aber zu einem solchen werden.

Alte Philosophie, neue Probleme

Dieser Gedanke der Potentialität geht schon auf Aristoteles zurück: im Embryo selbst (als Träger des menschlichen Erbgutes) ist schon die Möglichkeit enthalten, ein Mensch zu werden; ob er sich aber dazu entwickelt, würde letztlich auch etwas AKZIDENTELLES ( etwas Zusätzliches, aber auch Zufälliges, nicht Einzuplanendes) voraussetzen, und erst dann wäre der ontologische Status, sein SEIN als Mensch, gegeben. Aber es gibt viele verschiedene Ansätze in der Philosophie: ein anderer geht aus von der Individualwürde und spricht dem Embryo nicht nur humanen, sondern auch personalen Status zu. Hier würde der Embryo nicht zum Menschen, er wäre bereits einer; in diesem Fall müsste man vor ihm aber nicht nur eine höhere Achtung als “Nicht -Sache” haben, sondern ihm gleich Menschenwürde zuschreiben, was im Endeffekt heißt, dass er die gleichen Grundrechte besitzen würde ( z.B. Lebensschutz). Mehr zu allen philosophischen Ansätzen im weiterhin sehr lesenswerten Artikel von 2009  “Die Diskussion um den Status des extrakorporalen frühen menschlichen Embryos” von Jan P. Beckmann.

Die “Pille danach”

Wer genau hinschaut, müsste sich bei dieser Diskussion zwar nicht unbedingt mit der künstlichen Befruchtung beschäftigen, nicht mit den komplexen wissenschaftlichen Problematik von heutigen und zukünftigen Forschungsthemen ( wie z.B. der künstlichen Gebärmutter), sondern beispielsweise nur mit der inzwischen alltäglich benutzten “Pille danach”; diese ist als Notfall- Verhütungsmittel erhältlich, hat aber auch einen immer noch nicht ganz geklärten Einfluss auf die Nidation nach bereits stattgefundener Befruchtung. Insofern wäre sie kein Verhütungsmittel, sondern auch ein Früh-Abtreibungsmittel. Die gleiche Problematik besteht bei allen Mitteln, die die Nidation des schon entstandenen Embryos verhindern, wie Spiralen und andere mechanische Mittel  mit und ohne Hormone durch ihre Einwirkung auf die Gebämutterschleimhaut. Wer das “Personsein” des Embryos zugrundelegt, wie es jetzt das Alabama-Gesetz wieder tut,  müsste konsequenterweise also alle diesbezüglichen Mittel ebenfalls ablehnen.

Fazit

Die neue Rechtslage in Alabama  betrifft uns nicht, aber sie geht uns viel an.  Wir könnten, statt nur reflexartig “rückständige” Gesetze und politische Tendenzen zu verurteilen, uns einmal wieder mehr mit den Begriffen beschäftigen und überhaupt mehr darüber nachdenken, was wir persönlich und als Gesellschaft anstreben und  anerkennen wollen. Die Wichtigkeit der Definitionen ist weiterhin nicht zu unterschätzen, denn diese bestimmen letztlich unsere Gesetze ebenso wie unser Zusammenleben.

 

Literaturtipps

Aristoteles: Die Kategorien

Jan P. Beckmann: Ethische Herausforderungen der Modernen Medizin

Eizellspende – Aufhebung des Verbots?

Zwei Länder verbieten die Eizellspende in der EU: Deutschland und Luxemburg. In Deutschland wird  gerade wieder nachgedacht über eine Aufhebung des Verbots. Wie oft bei schwierigen Themen kann man gleich zu Anfang feststellen: es wird nicht die eine, gute und alles umgreifende Lösung geben. Aber die Debatte ist wichtig, und am Ende muss eine für alle akzeptable und rechtssichere Lösung stehen. Was also spricht für, was gegen das Verbot? Eizellspende – Aufhebung des Verbots?

…mehr lesen

Pflanzen und KI. Rangordnung und Neujahrswunsch

Im letzten Monat des  Jahres 2023 mit seinen großen Umwälzungen und täglichen Schreckensnachrichten hatte ich mich auf der Suche nach etwas Anderem wieder einmal mit Pflanzen beschäftigt. Natürlich nur, um am Ende festzustellen, dass es kein von Allem losgelöstes Thema gibt. Auch dieses ist komplex, existenziell und sogar hochpolitisch. Eine gewisse Aktualität bekamen Pflanzen mit den Weihnachtsbäumen. Millionen gefällter Bäume in einer Zeit von sich zuspitzender Klimakatastrophe? Beim näheren Hinschauen kommt man auf viele Pros und Contras. Zu den neuen und überraschenden Erkenntnissen gehört dann, dass die Ökobilanz bei den künstlichen Bäumen meist sogar schlechter ist als bei den natürlichen, wenn diese regionale Bäume aus biologischen Baumschulen sind.

Aber hier geht es mir weder um Weihnachtsbäume noch um diesen Teil des Themas Pflanzen – ihre Nutzung durch uns – sondern um etwas Anderes: unsere selbstgegebene Hierarchie, die gefühlte Rangordnung  von ganz oben nach ganz unten.  Menschen, Tiere, Pflanzen. Die Dominanz des Menschen. Und das hochaktuelle Infragestellen dieser  Rangordnung  durch die Künstliche Intelligenz, genauer, die AGI oder gar ASI.

Der Mensch an der Spitze der Hierarchie?

Der Mensch hält sich ja für die Krone der Schöpfung, aber das ist er nur in dem Sinne, dass er die meisten Veränderungen in unserer Welt bewirkt hat. Etwa 9000 Jahre vor unserer Zeitrechung begann das Holozän – der Name heißt  “alles neu” –  in welchem es durch Klimawandel umwälzende Veränderungen im Tier- und Pflanzbereich gab; in den letzten Jahrhunderten griff der Mensch immer mehr ein, das Anthropozän ( “neu durch Menschen” ) wird ab dem 17. Jahrhundert oder auch erst im 20. gesehen. Eingreifend also wirkt der Mensch, alles beherrschend, aber ansonsten ist diese Hierarchie gar nicht so gut begründet:  viele Tiere sehen, hören, riechen besser als wir, sie sind muskelstärker und laufen schneller; und Pflanzen haben uns das Wichtigste überhaupt voraus: sie können meist ihre  Nahrung selbst herstellen, während wir alles zuführen müssen. Kein Grund also eigentlich für die Dominanz eines der Wesen in der Hierarchie, da keins Alles kann.

Pflanzen am Ende der Rangordnung.

Völlig unberechtigterweise stehen die Pflanzen in unserer selbstgeschaffenen Rangordnung ganz unten, trotz ihrer enormen Bedeutung für uns. Erst langsam mehren sich die Stimmen, die nicht nur ihre Bedeutung in Bezug auf  Vernutzung  wie bei Ernährung und Landwirtschaft hervorheben, sondern sich auch allgemeiner nach dem Status fragen, den wir den Pflanzen zuordnen. Innerhalb des großen Gebiets der Ethik entwickelt sich nach der Tierethik auch eine Pflanzenethik. Die Erkenntnis,  wieviel wir auch von Pflanzen lernen könnten, kommt schleppend. Zu  beobachten sind da beispielsweise die Überlebenstechniken Vernetzung und Kommunikation sowie ein perfektes Team Work!  Unterirdische Pilzgeflechte von Pflanzen, die dem Austausch von Nährstoffen dienen, wurden schon mit neuronalen Netzwerken verglichen. Symbiosen führen dazu, dass alte Bäume schwache kranke und junge mitversorgen und dass überlebenswichtige Stoffe als Vorrat gespeichert werden können.

KI und die Rangordung

Der britische Mathematiker Irving John Good hat 1965 in Oxford  eine Arbeit mit dem Titel “Spekulationen über die ersten superintelligente Maschinen” veröffentlicht,  in der steht, dass die erste superintelligente Maschine die letzte Errungenschaft des Menschen sein wird, weil sie aufgrund eben dieser Superintelligenz selbst neue bessere Maschinen bauen würde. Spekulation war der richtige Ausdruck, denn das war logisch, aber Science Fiction. Ein halbes Jahrhundert später sprechen wir intensiv und immer ernsthafter über AGI, die ‘Allgemeine Künstliche Intelligenz’ und sogar über ASI, die sich völlig selbständig machende Superintelligenz. Genauer: wir als Nicht-Experten  und Leser sprechen immer intensiver und die Wissenschaftler immer ernsthafter über dieses Thema. Weltweit geht es um die eine Frage, die alle umtreibt: nachdem wir  bisher KI als Werkzeug benutzten,  (ANI oder Artificial Narrow Intelligence) – welchen Einfluss können wir darauf haben, dass eine entstehende AGI, also eine KI mit dem Menschen ähnlichen kognitiven Fähigkeiten,  oder gar eine ASI, die uns nicht in Teilen, sondern in Allem überlegen ist, für uns positive Auswirkungen hat?

Neujahrswunsch 2024

Um uns zwischen Begeisterung und Ohnmacht zu bewegen, vor allem aber um uns nicht in einem Dauerzustand  gefühlter Bedrohung  durch eine möglicherweise bösartige Superintelligenz zu fühlen, brauchen wir auf jeden Fall mehr Verständnis und Beteiligung. Gegen Ängste hilft Informiertsein. Es erscheinen lohnende Arbeiten über die Ethik der Künstlichen Intelligenz. Da oft nicht einmal die Begriffe klar sind, werden Versuche von Klassifizierungen unternommen, wie kürzlich von Google Deep Mind.

Und was hat das alles mit den Pflanzen zu tun?

Es hat sehr viel mit unserer genannten Hierarchie zu tun, die im Augenblick vielleicht noch nicht unmittelbar bedroht, aber jedenfalls durch die AGI  und das Konzept der ASI in Frage  gestellt wird. Wäre dieser Punkt nicht eine Gelegenheit für uns, sie radikal zu hinterfragen? Diese Rangordnung im Sinne von Hackordnung endlich abzuschaffen und Symbiosen von Menschen, Tieren und Pflanzen als das Wesentliche zu begreifen? Zu lernen also grenzübergreifend voneinander und von schon vorhandenen Organisationsformen in unserer Tier-  und Pflanzenwelt? Das wäre dann ein Neujahrswunsch! Und die Pflänzchen, die sich im  Bild oben aus den Steinen ihren Weg bahnen, wären ein Symbol für Hoffnung.

 

Danke für Bild an Mabel Amber auf Pixabay

Literaturtipps

Angela Kallhoff: Prinzipien der Pflanzenethik

Stefan Mancuso: Die Pflanzen und ihre Rechte

Stefan Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen

Überlebenskünstler

 

Lebensdauer – Todeszeitpunkt

Ärzte und Ärztinnen kennen die Frage:  Wie lange habe ich noch? Oft wird die Frage nach Lebensdauer und Todeszeitpunkt sofort bei der Diagnose ‘Krebs’ gestellt, fast immer am Ende eines langen Leidens – Prozesses, wo es  darum  geht, welcher Behandlungsweg weiter eingeschlagen werden soll.

Lebensdauer – Todeszeitpunkt: sinnvolle Frage oder Neugierde?

Man kann die Frage aber auch ‘nur so’ stellen – das Internet macht es möglich. Tatsächlich kann, wer möchte, die verschiedensten sites finden; zum Teil sind diese bewusst als eine von mehr oder weniger spielerischen Grusel-Möglichkeiten angelegt, teilweise führen sie aber zu Sichtbarmachung der allgemeinen Lebenserwartung. Das kann sehr sinnvoll sein: hier wird zum Beispiel im Endeffekt aufgezeigt, wie sehr die allgemeine Lebenserwartung für Einzelne beinflussbar ist. So könnte eine solche site beispielsweise dazu führen, dass Menschen sehen, wieviel Lebensjahre sie gewinnen könnten, wenn sie lang Gewusstes in die Tat umsetzen würden: sich gesünder ernähren, nicht mehr rauchen, Alkoholkonsum einschränken, mehr Bewegung in ihren Alltag einbauen und soziale Beziehungen stärken.

Allgemeine Lebenserwartung und persönliche Lebensdauer

Es geht dabei aber immer um die allgemeine  Lebenserwartung. Die Antwort ist eine statistische und kann für eine Einzelperson nur aussagen: so wie du jetzt bist, und wenn alles so bleibt, wirst du in dieser Gesellschaft und in diesem Land etwa – sagen wir – bis zum 92. Lebensjahr leben. Diese Antworten der Statistiken können nicht den Einzelnen erfassen, nicht wissen und einrechnen, ob du mit nur 56 im nächsten Jahr einen tödlichen Unfall erleidest oder einen Herzinfarkt, oder ob du nach mehrfachen Infektionen vielleicht niereninsuffizient wirst und eine Dialyse benötigst oder auf eine Transplantation wartest uvm.

Ganz anders ist das bei den Fragen, die in der Medizin an Ärzt:innen gerichtet werden oder die Ärzt:innen und Pfleger:innen an die Medizin als Wissenschaft richten. Hier wird unter Vorlage aller bekannten medizinischen Daten gefragt, wie sich die ganz persönliche Lebenserwartung darstellt; die Frage also ist, wie lange der Mensch X mit den Untersuchungsdaten Y  noch leben wird. Kann man diese Frage heute beantworten? Um es gleich zu sagen: nein, wenn es um einen genauen Todeszeitpunkt geht. Allerdings werden die Annäherungswerte immer besser. Das bringt Chancen und Probleme mit sich.

In die Zukunft schauen: was können wir schon?

Die Frage ist so alt wie die Menschheit: Seit der Antike kennen wir die Orakel, Wahrsager hatten Zulauf bei Jahrmärkten, Tarotkarten sind weiterhin beliebt. In allen Fällen geht es um reine Auslegung. Heute gibt es zur Bestimmung von Lebensdauer – Todeszeitpunkt  Algorithmen, die für bestimmte Gruppen eine Art Standortbestimmung vornehmen können. Dazu gehört beispielsweise das für gebrechliche alte Menschen in häuslicher Pflege von Wissenschaftlern der Universität Ottawa konzipierte Projekt Respect. 

Dieses in Kanada entwickelte tool basiert auf mehreren Fragen und gibt am Ende eine Einschätzung, mit welcher prozentualen Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Monaten bis fünf Jahren der Tod eintritt. Solche Voraussagemodelle sind schon spezifischer, aber weit entfernt von einer genauen Voraussage. Perfektionierter wirken da die in Laboruntersuchungen feststellbaren  Biomarker.

14 solche Biomarker können die Wahrscheinlichkeit berechnen, innerhalb der nächsten 5-10 Jahre zu sterben. Über längere Zeiträume gibt es bisher kaum Möglichkeiten, besonders bei älteren Menschen. Aber über eine Kombination dieser Biomarker mit anderen Untersuchungsbefunden ist eine immer genauere Einschränkung zu erwarten.

Todeszeitpunkt – sollten wir nähere Bestimmung  anstreben?

Einiges spricht dafür:

  • Jede frühzeitige Erkenntnis über die individuelle Lebenserwartung erleichtert auch noch mögliche präventive Maßnahmen, dazu eine sinnvolle Therapieplanung.
  • Möglichst genaue Kenntnisse über das Sterberisiko können Ärzt:innen bei der Einschätzung auch des Risikos einer Operation helfen. Ist der/die zu Operierende zu gebrechlich für den Eingriff? Welches Positive ist für die Patient:innen im Ganzen von dem Eingriff zu erwarten?
  • Auf der Grundlage solcher Kenntnisse könnte leichter bei unheilbar Kranken über die am besten einzuschlagende Behandlung entschieden werden. Patient:innen könnten klarer entscheiden, ob sie beispielsweise lieber das Krankenhaus verlassen und zu Hause durch einen ambulanten Palliativdienst betreut werden wollen.

Und Vieles dagegen:

  • Eine solche statistische Risikoeinschätzung könnte einen zu hohen Stellenwert in der individuellen Medizin bekommen und es würden sich unzählige neue Fragen ergeben: dürften Krankenkassen fordern, dass Algorithmen über Operationen entscheiden, die für Patient:innen noch finanziert werden würden? Dürfte eine KI die Patient:innen in Gruppen einteilen, welche generell noch Leistungen (zum Beispiel Medikamente, Dialyse) erhalten und welche nicht? Wäre eine solche Einteilung nach individuellen Untersuchungsbefunden gerechter als eine Einteilung nach Alter, die ja von Gesundheitsökonomen als objektives und gerechtes Kriterium bezeichnet und in verschiedenen Ländern schon angewendet wird?
  • Wie weit könnten Ärzt:innen damit unter Druck gesetzt werden?  Würde von ihnen verlangt werden, dass sie im Gespräch zur gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patient:innen nur noch solche Therapien vorstellen, die aufgrund der Einteilung des Algorithmus ‘lohnend’ sind?
  • Ergebnisse von Vorhersagen können Patient:innen stark beinflussen. Das größte Problem ist die ‘selbsterfüllende Prophezeiung’. “Alles lohnt sich bei mir ja sowieso nicht” kann zu Depression und Selbstaufgabe führen, was für jeden Heilungsprozess sicher nicht förderlich ist.  An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass Patient:innen einerseits alles gemeinsam mit Ärzt:innen entscheiden sollen, aber andererseits ein ‘Recht auf Nichtwisssen’ haben. Wie und wodurch müssten alle Patient:innen  den Wunsch nach Nichtwissen festlegen und zur Kenntnis Aller bringen?

Lebensdauer – Todeszeitpunkt kennen: wollen wir das überhaupt?

In dieser Frage stecken zwei verschiedene Gedanken. Was wollen wir als Gesellschaft?  Und: Was will ich für mich? Die erste Frage verlangt eine breitere gesellschaftliche Diskussion als bisher geführt und zwar bald; denn natürlich hängt diese Frage auch zusammen mit  unserer demografischen Entwicklung, mit drohenden immer größeren Problemen bei der Finanzierung im Gesundheitswesen,  Standortbestimmungen der Krankenkassen, Leistungsmöglichkeiten der Krankenhäuser. Steigt der Kostendruck immer weiter, wäre gar die  Konsequenz möglich, dass solche immer besser werdenden Tests zur Bestimmung der Lebenserwartung zu einer Pflicht werden könnten? Der Deutsche Ethikrat hat schon 2017 in seiner Stellungnahme zu Big Data in der Gesundheit zumindest klargestellt, dass der Gebrauch von derartigen in der Zukunft möglichen Risikoprofilen für den Gebrauch der Gesetzlichen Krankenkassen verboten werden sollte, schon allein deshalb, weil ein solcher Gebrauch das Solidaritätsprinzip aushebeln würde.

Mit der zweiten Frage: “Was will ich für mich” sollte sich allerdings Jeder bewusst auseinandersetzen. Auch wenn es offensichtlich einzelne Menschen gibt, die ein ewiges Weiterleben für erstrebenswert halten, (Stichwort beispielsweise Kryokonservierung) trifft das wohl für die Mehrheit nicht zu. Ob notgedrungen oder aus fundierten Überzeugungen bejahen Menschen die Tatsache, dass wir sterben und dass neue Generationen nach uns leben werden. Nachdenken müssen wir viel intensiver über die Frage, was jeder Einzelne für sich für Lebensqualität hält; darüber, was für mich selbst ‘sinnvoll’ erscheint, dass ich vielleicht weniger Angst vor dem Tod habe als vor einem für mich persönlich nicht mehr sinnvollen Leben und vor allem vor einem Leben in Schmerzen und Not. In diesem Zusammenhang müssen wir, jeder Einzelne, tatsächlich auch mehr über ‘sinnvolle Medizin‘ nachdenken und darüber, dass es ‘vergebliche Medizin’ nicht gibt. Darüber hinaus darüber, ob  wir über alles, was man untersuchen kann, inklusive Voraussagen, informiert werden wollen oder nicht, und wir müssen solche Entscheidungen dann auch kommunizieren. Sprechen mit Menschen unseres Vertrauens, schriftlich aufnehmen in unsere Vorsorgevollmacht.

 

Dank für Bild an Lucas Pezeta auf Pexels

 

Literaturtipps

Thomas Ramge: Wollt Ihr ewig leben?

Thomas Ramge: Augmented Intelligence. Wie wir mit Daten und KI besser entscheiden

Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft

 

Können Roboter den Pflegenotstand beheben?

Die Situation: der demografische Wandel – Zunahme älterer bei Abnahme jüngerer Menschen –  ist längst da. Zusätzlich kommt in wenigen  Jahren die Generation der ‘Babyboomer’ ins Rentenalter. Somit wird die Anzahl pflegebedürftiger Menschen nochmals stark ansteigen.   Pflegenotstand ist jetzt schon Fakt, besonders dramatisch der Mangel an Pflegefachpersonen. Zusätzlich gibt es immer mehr Ausfälle bei den jetzt  Pflegenden, die durch dauernde Überforderung  in Schichtdiensten eher erkranken oder ganz ausfallen oder kündigen. So ist der Personalschlüssel Pflege in Deutschland im europäischen Vergleich schlecht. Was liegt also näher, als endlich Roboter zur Lösung einzusetzen? Die Frage ist: Können Roboter den Pflegenotstand beheben?

Pflegerobotik update

Unter diesem Titel hatte ich im März 2022 zusammengefasst, was es neu gab. Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen. Gibt es einen Durchbruch? Um es gleich zu sagen: nein, und das trotz der immensen technischen Fortschritte. Kurz zusammengefasst: es stehen uns bereits zur Verfügung:

  • Serviceroboter mit immer mehr Möglichkeiten:  Material wie Wäsche oder Verbandsmaterial in Kliniken zu den verschiedenen Stationen transportieren, inzwischen selbständig Aufzug fahren, be- und entladen. Was hier mit der Pflege zu tun hat, ist die Zeitersparnis. Wichtig, aber eben nur das.
  • Näher an Patient:innen sind Assistenzrobotsysteme wie ferngesteuerte immer flexiblere und sensiblere technische Arme, die beispielsweise Verbandswechsel bei großflächigen Wunden durchführen können, Lagerungen in Isolierzimmern wegen Infektionsgefahr und Vieles mehr. Diese arbeiten aber nicht selbständig, sondern als Werkzeug für Pflegekräfte. Allerdings können Assistenzroboter auch einfache praktische Hilfen bereitstellen; sie können beispielsweise Getränke bringen, hingefallene Gegenstände aufheben, Erinnerungsfunktionen übernehmen und Stürze melden. Assistenzroboter wie Pepper spielen auch eine Rolle nur bei der Zeitersparnis, da sie Patient:innen eine Zeitlang beschäftigen können, ob durch Vorlesen und Spiele oder durch Gymnastikprogramme.
  • Sozioemotionale Roboter wie die Robbe Paro (in den USA als Medizinprodukt zertifiziert und von den Kassen erstattet), die wie eine Tiertherapie dort eingesetzt werden können, wo aus hygienischen Gründen Tiere nicht gestattet sind. Menschliche soziale Umarmungen und Berührungen können aber auch durch immer menschenähnlichere humanoide Roboter nur dargestellt, nicht ersetzt werden.

Und was gibt es immer noch nicht ? Eine Kombination aus allem. Und schon gar nicht gibt es ein technisches System, welches eine Pflegefachkraft ersetzen könnte. Die – je nach Standpunkt und Interessen – Hoffnung oder Angst, dass Roboter Fachpflegekräfte ersetzen können, scheint immer unbegründeter.

Anforderungen an Pflegeroboter

Was müsste es denn geben, um Menschen in der Situation der Pflege, welche nicht Ersatz von einzelnen Funktionen, sondern Sorgearbeit ist, ersetzen zu können? Die Antwort wäre: Roboter mit sehr umfangreichen, wenn nicht allen menschlichen Eigenschaften, körperlicher und geistiger Interaktionsfähigkeit, sehr komplexem und selbständigem Verhalten (was der Verantwortung einer Person entspricht, auch mit allen rechtlichen Konsequenzen). Spätestens an dieser Stelle wird aber wohl deutlich, dass es um Fragen geht, die nicht nur die Grenze des Machbaren, sondern auch des Wünschbaren berühren! So formulierte Peter Tackenberg vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe 2019 lapidar: “Technik, die das menschliche Beurteilungsvermögen durch künstliche Intelligenz ersetzt statt ergänzt, wird in der Pflege nicht benötigt.”

Pflegeroboter und Pflegenotstand heute

Was sind die Fakten? Im Augenblick muss der Einsatz sozialer Robotik von Pflegepersonen begleitet werden; es ist nicht nur die Technik, die Einführung verlangt, weil einmal die Nutzung robotischer Systeme technische Kenntnisse erfordert und zum Anderen diese Systeme gewartet werden müssen. Vor allem benötigen Menschen Zeit, um sich an Interaktionen mit Robotern zu gewöhnen; das gilt ganz besonders bei Patient:innen mit kognitiven  Einschränkungen. Dadurch entsteht aber mehr, nicht weniger Arbeit für Pflegepersonen, also genau auf dem Gebiet, wo (Altenpflege!) Roboter von der Werbung als die Lösung hingestellt werden. Ganz abgesehen davon, dass die Maschinenethik weiterhin ausgebaut werden muss, dass der Einsatz selbstlernender Systeme erst am Anfang steht, dass  Fragen zur Verantwortung und Haftung weiter ungeklärt und  gesetzgeberische Maßnahmen sowie rechtliche Vorgaben noch lückenhaft sind.

Pflegerobotik in der Entwicklung

Neueren Datums ist die Erkenntnis, die wegweisend sein könnte: dass die Probleme schon bei der Entwicklung gesehen werden müssen. Entwickler müssten zunächst die Komplexität pflegerischer Maßnahmen verstehen, abgesehen von allem, was mit den ethischen und sozialen Fragestellungen verbunden ist. Das ist nur durch enge Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften erreichbar. Am Ende dieses Prozesses müsste ein Roboter stehen, bei dem eine Pflegefachkraft zusätzlich Aufgabenstellung und Veränderung für ihre einzelnen Patient:innen individuell  vornehmen kann. Es klingt so einfach und ist am schwierigsten: Roboter, die in der Interaktionsarbeit  (Arbeit an und mit Menschen) einen Menschen ersetzen sollen, müssen sich an die Anforderungen des Einzelfalls und die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen anpassen können und sie müssen in dieser Interaktion mit den beteiligten Menschen weiterlernen.

Wie geht es weiter?

Immerhin, es gibt Stimmen, die sagen: “[…] die Frage ist nicht, ob, sondern wie, wo und letztlich wann intelligente und autonome Roboter in der Altenpflege Einsatz finden werden”. Wenn man die Frage etwas erweitert auf ‘Seniorenbetreuung’, zum Beispiel auf alleinlebende ältere Menschen, die möglichst lange selbständig zu Hause bleiben wollen, ist das wohl richtig. Hier gibt es inzwischen Pilotprojekte. Auch Kombinationen aus Assistenz- und Unterhaltungsrobotern  wie TEMI werden in Praxisprojekten getestet,  kommen allerdings  bisher immer wieder an ihre Grenze. Ansonsten ist der Begriff Pflegeroboter, unter dem verstanden wird, dass eine Maschine Pflegekräfte ersetzt, auch heute nur irreführend. Wer Werbung sieht, glaubt, ein Roboter könne sich selbständig um Körperpflege, Ernährung und Medikamentenverabreichung kümmern und gleichzeitig Gesellschafter oder gar Ansprechpartner sein, und das ist nicht korrekt. Es trifft heute nicht zu und wird flächendeckend als Lösung unseres Pflegenotstandes zumindest sehr lange nicht zutreffen. Auf der anderen Seite steht das Problem, dass Serviceroboter von Pflegekräften zur Arbeitserleichterung audrücklich gewünscht werden, aber in der Altenpflege kaum zum Einsatz kommen. Grund? Die Kosten. Oder: Verschiebung des Problems auf die höchste strukturelle Ebene: politischer Wille. So ist selbst hier, wo es bereits möglich wäre, kaum ein Fortschritt zu verzeichnen.

Fazit:

  • Im Augenblick ist im Pflegebereich jeder Roboter noch selbst zu stark  ‘pflegebedürftig’; er braucht die Menschen mehr als die Menschen ihn.
  • Die in der Werbung oft dargestellte Kombination aus Serviceroboter und sozioemotionalem Roboter ist weder erreicht noch im Augenblick vostellbar.
  • Der Technikfortschritt ist deutlich. Er bedeutet aber letztlich, dass nicht weniger, sondern mehr und vor allem besonders qualifizierte Pflegekräfte mit differenzierter Ausbildung erforderlich sind.
  • Die Zukunft der Pflegerobotik liegt im individuellen Anpassen an die Bedürfnisse der einzelnen Menschen. Dazu wäre nicht nur viel mehr interdisziplinäre Forschung nötig, sondern vor allem praktische Zusammenarbeit von Entwicklern und Pflegefachkräften lange vor dem Einsatz eines Roboters. Die Einbindung der Pflege ist bereits in der ersten Entwicklungsphase dringend erforderlich.

Nicht der Roboter pflegt, sondern die Pflegekraft

Ich glaube, das Beitragsbild symbolisiert den jetzigen Stand sehr schön: die menschliche Hand und die Roboterhand versuchen, sich zu berühren, aber die Lücke zwischen beiden ist nicht zu schließen. Bei der Annäherung der zwei Welten ist ein Händedruck noch nicht in Sicht. So bleibt auch 2023 nur die Feststellung: nicht der Roboter pflegt, sondern die Pflegekraft. Oder, wie es der Deutsche Ethikrat
schon 2020 formulierte: es gibt einen möglichen Nutzen von Robotik im Pflegebereich, aber der liegt nicht in der Beseitigung von Personalengpässen im Einzelnen und des Pflegenotstandes im Ganzen, sondern in der Unterstützung und Förderung guter Pflege. Ferner kann und darf ein Roboter nicht im Sinne von Effizienzmaximierung  als Ersatz zwischenmenschlicher Beziehung betrachtet und niemals gegen den Willen von Gepflegten und Pflegenden eingesetzt werden; schließlich ist nötig, dass alle Betroffenen in die Entwicklung der Technik einbezogen werden.

 

Dank an Tara Winstead für Foto auf pexels 

 

Literaturtipps

OliverBendel: Pflegeroboter

Ludwig Binder: Pflegeroboter als Zukunft im Gesundheitswesen

Ronald Deckert: Digitalisierung in der Altenpflege

Katrin Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik

Thomas Rampe: Mensch und Maschine

Hergesell Jannis et al (Hrsg): Genese und Folgen der Pflegerobotik

Oliver Korn ( Hrsg) : Social Robots

Nicole Kaczmar:  Pflegeroboter in der Altenpflege