Ist Alter eine Krankheit?
Versuchen Sie es doch einmal: Watte in die Ohren stecken, ein wenig Öl auf den Brillengläsern verreiben, Kniegelenke fest mit Binden umwickeln – es sind nur wenige Tipps, aber Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Es geht darum, “normale” Fähigkeiten wie das Sehen, Hören, ungehinderte Laufen einzuschränken. Und jetzt gehen Sie bitte für eine festgesetzte Zeit Ihren “normalen” Tätigkeiten nach, nicht nur zu Hause. Gehen Sie z.B. einkaufen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie ungewöhnlich müde und gestresst sein und eher als geplant aufhören wollen. Was ist da passiert? Sie haben Alter simuliert.
Medizin und Virtuelle Realität
Der Begriff, so wie wir ihn verstehen wollen, ist 30 Jahre alt: zur virtuellen Realität (VR) sagte 1989 Jaron Lanier, gehört nicht nur das künstliche Sichtbarmachen einer Welt, sondern die Immersion, das Eintauchen der Person in diese und die Möglichkeit der Interaktivität. Die Sache selbst allerdings, könnte man sagen, ist so alt wie die Menschheit.
Vorgeschichtliche alternative Realität?
Tatsächlich haben Menschen schon “immer” versucht, ihre Realität zu überschreiten. In den 20000 und mehr Jahre alten Höhlenmalereien ging es offensichtlich nicht nur um Abbildungen von Tieren, sondern um Erzeugen anderer Bewusstseinszustände durch das Einsetzen von Fackeln, was die Tiermotive beweglich erscheinen ließ. Zeitlich näher liegt uns die griechische Philosophie mit Platons berühmtem Höhlengleichnis. Die Höhleninsassen halten das Schattenspiel für “wirklich Seiendes”. Heute hilft uns die Technik, uns in der virtuell erzeugten Welt als real zu erleben. Was heißt das? Wir reagieren auf eine Welt, die real ja nicht “existiert”. In einer angsterzeugenden Situation z.B. erhöht sich unsere Herzfrequenz und wir schwitzen – genau wie in der realen Wirklichkeit, auch wenn wir wissen, dass wir nicht “wirklich” gefährdet sind!
Kunst und Literatur waren früher
Der amerikanische Science Fiction Autor Stanley G. Weinbaum veröffentlichte 1935 seine Kurzgeschichte ” Pygmalion’s spectacles”, in der die Menschen Brillen tragen, die sie nicht nur Bilder und Töne erleben lassen, also eine Art Film, sondern gleichzeitig alle Sinnesqualitäten: Geschmack und Geruch. Die Menschen “sehen” nicht eine verfilmte Geschichte, sondern sind Teil dieser Geschichte. 1964 erschien der Roman “Simulacron-3” von Daniel F. Galouye, in Deutschland wurde die Verfilmung durch Rainer Werner Fassbinder bekannter ( “Welt am Draht”). Der größte Entwurf einer Simulation, in der die gesamte Erdbevölkerung lebt, gelang aber “Matrix” 1999. In allen Fällen wird eine Realität erzeugt, die die Teilnehmenden nicht von realen Wahrnehmungen unterscheiden können.
Erweiterte virtuelle Realität (Augmented Reality, AR)
Von AR sprechen wir, wenn eine simulierte Welt mit Teilen aus der realen vermischt wird. Das Spiel “Pokémon Go” ist ein Beispiel. Inzwischen machen sich nicht nur Spieleindustrie und NASA VR und AR zunutze, auch in der Medizin werden die Anwendungen breiter. Medizinstudenten können Organmodelle im Sinne des Wortes “betreten” und sich so besser und schneller in die dreidimensionalen anatomischen Gegebenheiten hineinversetzen. Sie können Untersuchungsmethoden (z.B Darmspiegelungen) im virtuellen Raum üben. Chirurgen können komplizierte Operationen vor dem wirklichen Eingriff am Patienten durchführen. In der Ausbildung der Katastrophenmediziner ist VR inzwischen unersetzbar, kann doch jedes Scenario erstellt werden, welches für die Helfer sonst nie erlebbar wäre. Auch in der Rehabilitation wird VR eingesetzt, zum Beispiel bei Schlaganfallpatienten, die wieder lernen sollen, sich in unbekannten Räumen zu bewegen: VR macht es möglich, die Räume zu verändern. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist die Psychiatrie: je schwieriger es ist, Patienten direkt zu fragen, was sie in einer bestimmten Situation tun würden, umso hilfreicher erscheint die Alternative, die Situation selbst zu verändern und die Patienten zu beobachten.
Trauma – und Angst-Therapie
Eine bekannte Therapiemethode bei Angststörungen ist die Konfrontationstherapie. VR ermöglicht es leichter, das Angstauslösende zu konstruieren – z.B. Giftspinnen bei entsprechender Spinnenangst oder sehr enge Räume bei Klaustrophobie, Brücken über Abgründen bei Höhenangst uvm. Posttraumatische Belastungsstörungen sind ein anderes Feld, es gibt Modelle zur Therapie von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Hunderte von neuen Anwendungen an Patienten wären hier anzuführen, aber auch eine ganz neue Frage für die Behandler: haben Ärzte eigentlich bisher wirklich gewusst, wie es ist, wenn ein Patient nicht oder nur sehr eingeschränkt sehen oder hören kann? Jetzt könnten sie es nachvollziehen, mit Hilfe von VR! Noch weiter: In Versuchen wurden verurteilte männliche Sexualstraftäter in Frauenkörper virtuell versetzt. So konnten sie erleben, wie es sich anfühlt, als Frau von einem Mann angegriffen zu werden. Berichtet wird ferner von erfolgreichem Einsetzen von VR bei Schmerzen.
Realisation und De – Realisation? Person und De – Personalisierung?
Spätestens an dieser Stelle müssen wir fragen, ob wir eigentlich wissen, was da mit uns passiert. Die Antwort müsste “nein” lauten. Wir wissen sehr wenig, zu wenig, und vor allem über Langzeitfolgen eigentlich nichts. Was macht es mit uns, aus uns, wenn wir uns nicht in einem realen sozialen Miteinander begegnen, sondern als Avatare? Wo ist unser Körper dann? Gibt es uns, unsere Person, auch? Zusätzlich? Wo stehen wir? Sind wir gleichzeitig “Ich”, nur ein Anderes? Sind wir nach der VR-Erfahrung Dieselben wie vorher? Jaron Lanier sagt: ja! Wir bleiben wir, auch wenn wir uns in eine andere Welt und einen anderen Körper hineinbegeben; wir können also eigentlich folgern, dass VR die Existenz unseres “Bewusstseins” beweist.
Mit dieser Frage und vielen anderen beschäftigen sich inzwischen die Philosophen: welche Auswirkungen VR auf unser Bewusstsein und unsere Selbstwahrnehmung hat und ob hier nicht letztlich so fundamentale Dinge wie Identität und Authentizität einfach verändert werden. Auch wurde bereits 2016 durch Madary und Metzinger ein erster ethischer Codex zum Umgang mit VR veröffentlicht https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/frobt.2016.00003/full , wobei die Autoren auf die Wichtigkeit der Freiwilligkeit hinwiesen; das, was wir in der Medizin heute “informed consent” nennen, die informierte Einwilligung nach verständlicher und ausreichender Aufklärung, die für jeden therapeutischen Eingriff von Seiten des Patienten vorliegen muss, soll ebenso in der VR eingefordert werden.
Schon wieder Orwell?
Nein, es geht hier nicht um Verschwörungstheorien. Nur: wenn man anerkennt, dass in der VR Bewusstseinszustände und Erfahrungen erzeugt werden können, dann ist VR eben eine Bewusstseinstechnologie und eine Möglichkeit, nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser grundlegendes Denken zu beeinflussen. Das kann so lange gut sein, wie es den guten Zwecken einer Therapie dient. Was es aber heißen könnte, wenn diese Möglichkeit eingesetzt wird, staatlich gelenkt Menschen im Sinne einer Ideologie oder eines bestimmten Verhaltens zu manipulieren – darüber sollte jeder Einzelne heute nachdenken! An dieser Stelle erscheinen uns sogar die längst gängigen Methoden des ” Neuromarketings” als harmlos! Technologien sind zunächst natürlich wertfrei, unsere Anwendung ist das Wesentliche. Nachdem es so scheint, als werde eine “gemischte” Realität unsere Zukunft sein, ist es längst an der Zeit, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Literaturtipps:
- Jaron Lanier: Dawn of the new everything
- Jaron Lanier: Anbruch einer neuen Zeit
- Platon: Der Staat
- Maximilian C. Maschmann: Virtual reality Blueprint: ein kurzer Einblick
Einige Beispiele med. Anwendungen:
https://www.hhi.fraunhofer.de/abteilungen/vit/projekte/vreha.html
https://www.youtube.com/watch?v=6CuvyXcRV2w&feature=youtu.be
Und, da von 1994 (!) : https://www.aerzteblatt.de/archiv/86621
Zum Thema auch interessant der von der Firma Saturn als Werbespot hergestellte (und mit Recht sehr umstrittene!) Film über VR bei Demenz, noch zu sehen auf youtube
NIPT, Gentest in der Frühschwangerschaft
Vorgeburtliche Untersuchungen. Blicken Sie noch durch? Allein schon durch die Abkürzungen! PID, PND, NIPD. Ganz kurz: PID (Präimplantationsdiagnostik) bezeichnet Diagnostik an Embryonen, die durch extrakorporale Befruchtung erzeugt wurden, z.B. durch IVF (in vitro Fertilisation, “Befruchtung im Reagenzglas”). PND ( Pränataldiagostik) umfasst alle Verfahren der vorgeburtlichen Diagnostik, wozu invasive (in den Körper der Schwangeren eingreifende, z.B. die Fruchtwasseruntersuchung) und nichtinvasive (NIPD) gehören.
Diese NIPD erscheint in letzter Zeit häufig in Schlagzeilen, weil es außer den klassischen nichtinvasiven Verfahren (z.B. Ultraschalluntersuchung) jetzt die NIPT gibt: Blut-Tests, welche von der Industrie beworben, von Ärzten eingesetzt, im Internet von Schwangeren bestellt werden. Demnächst sollen sie Kassenleistung werden.
Verbessern oder steuern? Enhancement durch Technik
Ein “Cyborg” ist ein mit Maschinen gekoppelter Mensch, der erweiterte (bis zu “übernatürliche”) Fähigkeiten besitzt, bekannt geworden durch Science Fiction. Die vielen Herzschrittmacherträger sind eigentlich schon Cyborgs, die Smartphone- und Datenbrillen – Benutzer allerdings nicht, da diese Geräte nicht in den Körper integriert sind.
Der Cyborg ist Mensch geblieben. Wie lange aber ist er Mensch? Die Grenze zum Roboter wäre da, wo der Technikteil überwiegt.
Selbstverständlich finden wir es gut, dass wir technisch z.B. optische Signale in akustische umsetzen und einem Patienten, der nur schwarz und weiß wahrnimmt, auf diese Weise Farbsehen ermöglichen können. Lässt man aber die medizinischen Themen weg, also die Fälle, wo es um Hilfe bei Defiziten geht, sind wir wieder beim Enhancement. Wäre es nicht schön, wenn wir unsere normalerweise beschränkten Fähigkeiten erweitern könnten? Können wir das und was “bezahlen” wir dafür? Um beim relativ einfachen Beispiel der Sinne zu bleiben: Sind wir noch “Mensch”, wenn wir so schnell laufen könnten wie ein Gepard, nachts so gut sehen wie eine Katze, ultraviolettes Licht wahrnehmen wie Bienen oder uns mit Ultraschall orientieren wie Fledermäuse?
Dass wir mit dem Smartphone in Sekunden mehr wissen, schneller reagieren und uns rascher wieder erinnern können, ist eigentlich schon nicht mehr “natürlich”. Trotzdem stellen wir davon nichts in Frage. Warum? Das Smartphone ist ja nur ein Mittel, nichts Anderes als das Buch, in dem ich früher nachschlug – oder? Jedenfalls befindet es sich außerhalb meines Körpers. Ich fühle mich sicher: hier ist mein Körper, da die Maschine. …mehr lesen
Neuro-Enhancement und Hirndoping
Geistige Leistungssteigerung durch chemische Substanzen
Heute soll es nur darum gehen; von dem großen Thema der direkten Einwirkung auf Gehirne durch Technik soll der nächste und letzte Beitrag zum “Enhancement” handeln.
Das Kauen von Blättern des Coca-Strauchs ist in Südamerika seit über 2000 Jahren bekannt, aber “Neuro-Enhancement” wird auch in Europa seit Jahrhunderten betrieben: Kaffetrinken gehört dazu, ist doch Koffein eine chemische Substanz mit nachweislichen Wirkungen. Unter “Hirndoping” dagegen versteht man die (missbräuchliche) Verwendung von Substanzen, die verschreibungspflichtig sind und ohne medizinische Indikation von Gesunden zur Leistungssteigerung eingenommen werden. 2015 berichtete das Deutsche Ärzteblatt von fast 5 Millionen, die schon einmal rezeptpflichtige Medikamente zur Stimulierung genommen haben, ohne krank zu sein. Eine Million tue das inzwischen regelmäßig. ( Aus den USA wurden Daten von bis zu 35% der der Beschäftigten zitiert.) Eine wichtige Gruppe seien Studenten; mit der Indikation “Prüfungsangst” würden Ärzte solche Rezepte ausstellen. Aber auch innerhalb der Familie und über Freunde würden die begehrten Pillen ausgetauscht. Ferner nehme der Internethandel zu, eine besonders problematische Bezugsquelle aufgrund der unkontrollierten Fälschungen, die dort zunehmend unterwegs sind. Die Tendenz ist steigend, obschon man weiß, dass der Schaden bei langfristiger Einnahme weit größer ist als der Nutzen: Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, Herzrhythmus- und Schlafstörungen sind dabei noch “harmlos”, bedenkt man die gravierenden Folgen von Abhängigkeit und Persönlichkeitsveränderungen. …mehr lesen

Ute Altanis-Protzer
Dr. med., M.A.
Ärztin, Medizinethikerin, Literaturwissenschaftlerin und Autorin