Seltene Erkrankungen – Orphan Diseases
Wenn eine Erkrankung bei weniger als 1 Million Einwohner auftritt, gilt sie definitionsgemäß als “selten”. Wir können aber nicht etwas als “selten” ignorieren, was in Deutschland etwa 4 Millionen und weltweit 400 Millionen Menschen betrifft. Im Gegenteil gehen uns die besonderen Probleme der Betroffenen alle an, gehören sie doch zu den vulnerabelsten und damit schutzbedürftigsten Mitgliedern unserer Gesellschaft.
Besonders vulnerabel
Die Gründe liegen nach dem deutschen Ethikrat in der Schwere und Chronizität der Erkrankung, der hohen familiären Belastung, der Isolation und dem schlechten Zugang zu unterstützenden Ressourcen als Folge der strukturellen Ausrichtung des Gesundheitswesens auf häufige Erkrankungen und besonders die großen Volkskrankheiten.
Seltene Erkrankungen: heterogene Gruppe
Die Gruppe ist sehr heterogen; gemeinsam ist ein komplexes Krankheitsbild, Schwierigkeiten bei der Diagnostik, Fehlen von Therapien. Etwa 80% der Fälle sind genetisch bedingt; in der Hälfte handelt es sich um Kinder, und bei diesen erleben ein Drittel ihren 5. Geburtstag nicht. Bei den bisher bekannten etwa 7000 seltenen Erkrankungen gibt es nur für 5% eine zugelassene Therapie. Gelegentlich findet ein Fall des “Eigenbrauer-Syndroms” Eingang in eine Pressemitteilung und führt zu einer öffentlichen Diskussion; hier produziert der Organismus nach kohlehydrathaltiger Nahrung Alkohol; der Mensch, dessen Blutalkohol zufällig bei einer Verkehrskontrolle auffällt, hat keinen Alkohol getrunken. Mit Medikamenten und Ernährungsanpassung ist bei dieser Seltenen Erkrankung Leben möglich. Demgegenüber aber stehen die anderen mit schwersten Beeinträchtigungen von Organanlagen und -Funktionen und werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Seltene Erkrankungen: Besonderheiten
Das Anfangsproblem besteht immer darin, eine Diagnose zu stellen. Bei seltenen Erkrankungen ist das so erschwert, dass die Menschen oft jahrelange Leidenswege, erfolglose Therapien, sogar mehrfache Operationen hinter sich haben; für sehr viele Erkrankungen gibt es einfach noch keine Namen und damit auch keine Codierungen, was wiederum heisst, dass sie in der Datenwelt nicht erfasst werden können. Wenige Ärzte sind schon entsprechend spezialisiert. Relativ wenig Wissenschaftler und Unternehmen bringen sich in die Erforschung ein. Da auch die Arzneimittelentwicklung hier nicht nur besonders hohe Kosten sondern auch Risiken hat, gibt es nach der Diagnose wenige Therapien
Das Datenproblem
Bei seltenen Erkrankungen ist es besonders schwierig, ausreichende Datenmengen zu gewinnen. welche aber unbedingt erforderlich sind, um Verbesserungen in Forschung, Diagnostik und Therapie zu erreichen. Dazu kommt noch die Schwierigkeit von Interoperabilität: wenn Daten bei verschiedenen Leistungserbringern lagern und nicht zusammengeführt werden, sind sie für diese Zwecke nicht nutzbar. In Deutschland gibt es zusätzlich besondere datenschutzrechtliche Herausforderungen. Eine Hoffnung liegt jetzt auf der Künstlichen Intelligenz und der Zusammenführung von Daten zur gemeinsamen Nutzung in der elektronischen Patientenakte, in der auch die ORPHANET – Terminologie vorgesehen ist, wodurch seltene Erkrankungen suchbar und auswertbar werden.
Orphan Drugs
Seltene Erkrankungen heisst auch kleine Märkte für Medikamente, deshalb befürchten Unternehmen, dass ihre hohen Entwicklungsausgaben sich nicht amortisieren und haben weniger Interesse an der Entwicklung neuer Arzneimittel. In den USA wurden daher schon 1983 besondere Bedingungen geschaffen, in der EU im Jahre 2000. Seitdem sind bereits etwa 150 Orphan Drugs in der EU zugelassen worden. Ein bekanntes Beispiel ist die SMA, die Seltene Erkrankung Spinale Muskelatrophie. Für die Krankheit, deren Ursache (Gendefekt) schon seit über 20 Jahren bekannt ist, wurde ein Medikament 2017 zugelassen. “Heilung” ist das nicht, der Defekt ist weiter vorhanden, aber ohne diese Therapie sterben Kinder vor dem 2. Lebensjahr. Inzwischen gibt es weitere Versuche, eine Gentherapie möglich zu machen. Dennoch bestehen weiter große Herausforderungen, auch bei den im Entwicklungsprozess erforderlichen klinischen Studien.
Schwierige Entscheidungen
Auf der einen Seite steht das wenige Wissen über die Krankheit und die jetzt zu erprobende Therapie, auf der anderen die Patienten, die dringend Hilfe brauchen. Da es sich sehr häufig um Kinder handelt, müssen die Eltern die schwierigste Entscheidung treffen: ist das Risiko für mein Kind durch das erst zu erprobende Medikament höher oder niedriger als Nichtbehandlung? Weitere Probleme bestehen bei der Anwendung neuer Methoden der Genetik. So konnte bei einem genetischen Immundefekt, früher nur durch Stammzellentransplantation behandelbar, das verantwortliche Gen verändert werden. Den kleinen Patienten ging es dann deutlich besser, aber bei einem großen Teil kam es später zu einer Krebserkrankung, für die diese Veränderung wohl ursächlich war.
Viele ethische Fragen
Das beschriebene Problem bei der Arzneimittelentwicklung ist nicht nur ein ökonomisches, sondern ein ethisches, geht es doch immer um die Prinzipien: Patienten nicht zu schaden und ihnen zu helfen. Auch in Bezug auf das weitere Prinzip “Gerechtigkeit” gibt es besondere Herausforderungen. Eigentlich ist alles ganz klar: schon 1999 wurde für die EU im Sinne des Gleichheitsprinzips festgelegt, dass Patienten mit seltenen Leiden dasselbe Recht auf gute Behandlung haben müssen. Praktisch geht es aber um die Zuteilung von Ressourcen. “Allein der hohe Preis rechtfertigt nicht ein Vorenthalten notwendiger Medikamente”, sagt der Medizinethiker Giovanni Maio. Alle gesetzlich Versicherten in Deutschland haben Anspruch auf Bereitstellung und Finanzierung einer wirksamen und zweckmäßigen Behandlung, wobei gerade wegen des Gesichtspunkts “Gerechtigkeit” (für Alle in einer Solidargemeinschaft!) aber auch die Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden muss. Schon nach dem Wenigen oben Gesagten kann sich Jeder vorstellen, wie schwierig bei seltenen Erkrankungen allein schon diese Beurteilung der Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit ist. Wenn es um eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen bei knappen Ressourcen geht – dieses Thema wurde ja gerade in der Pandemie jetzt breit diskutiert – muss abgewogen werden: Maßnahmen mit hohem Individualnutzen und guter Evidenz werden bevorzugt. Was wieder zurückführt zur Notwendigkeit von mehr Forschung, um diese Evidenz erst bereitzustellen.
Was muss für seltene Erkrankungen getan werden
Der Europäische Rat empfahl 2009 die Bildung von Zentren und die Ausarbeitung von Plänen zur Steuerung von Maßnahmen, das wurde in Deutschland mit dem “Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen” umgesetzt. Es folgte Gründung des Nationalen Aktionsbündnisses NAMSE für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, in dem Kooperationspartner aus Gesundheitswesen und Patientenorganisationen zusammenarbeiten. Es gibt den Europäischen Dachverband der Patientenorganisationen (European Board for Rare Diseases EURORDIS). Langsam entstehen spezialisierte Zentren, welche für Patienten mit Seltenen Erkrankungen wegen der komplexen und multiprofessionellen Diagnostik und Therapie von größter Bedeutung sind. Dennoch ist das Gesundheitssystem weiterhin nicht optimal auf Patienten mit Seltenen Erkrankungen ausgerichtet. Verbesserungen sind nötig, zum Beispiel bei der Datennutzung, der molekulargenetischen Diagnostik, der ärztlichen Aus- und Weiterbildung, bei Screening-Programmen von Kindern zur frühen Erfassung genetischer Erkrankungen.
Herausgeforderte Solidargemeinschaft
Vor allem aber muss der Diskurs um Ressourcen und Zuteilungen weitergehen mit dem Ziel, dass niemandem eine notwendige Therapie wegen des Preises vorenthalten wird, aber mit der klaren Regelung, dass jede Zuteilung im Vorfeld im System geregelt ist und so Ärzte niemals im Einzelfall entscheiden müssen. Dieser Diskurs muss absolut transparent und breit gesellschaftlich geführt werden. Den Bedarf aller Versicherten zu decken scheint im Moment eine der größten Herausforderungen für die gesetzlichen Krankenkassen zu sein. Deshalb könnte auch von dieser Seite aus Eigenverantwortung immer mehr in den Focus rücken. Das Patientenrechtegesetz war ein grosser Fortschritt. Rechte bedeuten aber auch Pflichten. Dass Prävention wirksam ist, wissen wir. Wie weit und wie kann sie eingefordert und umgesetzt werden? Wenn wir wissen, wie stark häufige Erkrankungen durch unsere Lebensführung beeinflusst werden, ist die Frage durchaus legitim, was gerechter sei: Geld der Solidargemeinschaft für Menschen mit diesen häufigen Erkrankungen einzusetzen oder für Patienten mit ganz sicher “unverschuldeten” angeborenen genetischen Defekten. Auch wird der Unterschied “häufige” und “seltene” Erkrankungen mit der immer größeren Differenzierung der bekannten häufigen Erkrankungen im Rahmen der “Personalisierten Medizin” kleiner werden.
Gemeinsame Entscheidungsfindung und Selbsthilfe
Die auch allgemein anzustrebende gemeinsame Entscheidungsfindung von Ärzten und Patienten (Sharded decision making) ist bei Seltenen Erkrankungen unabdingbar. Wenn es aufgrund der Seltenheit keine Leitlinien und nur wenig Erfahrungen gibt, müssen Möglichkeiten und Wege in jedem Einzelfall erst gemeinsam entwickelt werden. Wenn die Patienten aber schliesslich eine Diagnose erhalten haben, sind sie heute gut informiert und vernetzt. Informationen gibt es gebündelt bei ZIPSE, Suche erleichtert der Atlas, die Koordination von Selbsthilfegruppen erfolgt durch die ACHSE.
Seltene Erkrankungen gehen uns alle an. Es ist unsere Aufgabe, sie weiter nach vorn in unser Bewusstsein zu rücken. Auch Versuche neuer Wege, wie z.B. der Podcast “Unglaublich krank – Patienten ohne Diagnose” tragen dazu bei. “Spread the word!”
Literaturtipps
Martin Mücke: Fälle Seltene Erkrankungen
Lorenz Griguli: Seltene Erkrankungen
Paul Just, Christiane Drumi: Seltene Erkranungen
Deutscher Ethikrat: Herausforderungen im Umgang mit Seltenen Erkrankungen
Wissen verbinden, Perspektiven schaffen
Bundesgesundheitsministerium: Seltene Erkrankungen
Danke an trajaner für Bild auf Pixabay
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